Zahlreiche Schweizer Jenische haben ihren Heimatort in Graubünden. Auch wenn sie heute nicht alle in diesem Kanton leben, so waren zumindest ihre Eltern oder Grosseltern in Bündner Gemeinden wohnhaft. Aber noch im 19. Jahrhundert besassen viele jenische Familien kein volles Bürgerrecht: Sie zählten zu den "Beisässen", "Angehörigen", "Geduldeten", "Heimathörigen" oder sogar "Heimatlosen". All diese Kategorien minderberechtigter Aufenthalter oder Niedergelassener wurden mit dem schweizerischen "Heimatlosengesetz" von 1850 aufgehoben. Die bundesstaatliche Politik wollte damit Rechtsgleichheit schaffen, aber auch bürgerliche Ordnungsvorstellungen durchsetzen. Tatsächlich entfaltete die Einbürgerungspraxis nun einen hohen Assimilationsdruck. Dies vor allem auch deshalb, weil das Bürgerrecht mit einer staatlichen Fürsorgepflicht gekoppelt war: Die Bürgergemeinden hatten ihre "armengenössigen" Mitbürger zu unterstützen. Vor diesem Hintergrund fragt das Projekt nach dem Umgang der kommunalen und kantonalen Behörden mit der jenischen Bevölkerungsgruppe. Was waren die Handlungsstrategien der Amtsstellen? Welche Resonanz fand ihr Vorgehen in der übrigen Bevölkerung? Welche Rolle spielte dabei das Bild, das man sich in der bürgerlichen Gesellschaft von den Fahrenden bzw. Jenischen machte? Wie sah dieses Bild überhaupt aus; hat es sich im Lauf der Zeit gewandelt? Gefragt ist vor allem auch die Wahrnehmung der Jenischen selbst, so wie sie heute fassbar ist. Welches war, nach der eigenen Erfahrung und Erinnerung von Betroffenen, die Stellung der Jenischen in in der dörflichen Umgebung? Welche Strukturen und Strategien entwickelten jenische Familien? Wie haben sich da die Lebenssituationen und -perspektiven zwischen Familie und Dorf gestaltet? Wo hat sich die individuelle Integration vollzogen - und wie weit? Worauf ist die persönliche Identität bezogen - und wie stark?
Das institutionelle Handeln hat sich vor allem im Aktenmaterial niedergeschlagen. Bei der Analyse dieses Materials ist quellenkritische Umsicht gerade dann erforderlich, wenn es um Angehörige einer Minderheit geht, die in den betreffenden Akten erfasst, deren Existenz durch diese Akten "modelliert" werden soll. Ein Korrektiv zu diesem Fremdbild bieten die Erinnerungen der Jenischen selbst. Jenische Biographien und Familienbiographien rekonstruiert das Projekt nach der Methode der "Oral History": In mündlichen Befragungen werden ausgewählte Personen aufgefordert, aus ihrem Leben zu erzählen.