Die Jenischen in den Bündner Gemeinden, 19. und 20. Jahrhundert

Ref. 9323

Allgemeine Beschreibung

Periode

1803-1973

Geographischer Raum

-

Zusätzliche geographische Informationen

1. Graubünden 2. ganze Schweiz

Kurzbeschreibung

Zahlreiche Schweizer Jenische haben ihren Heimatort in Graubünden. Auch wenn sie heute nicht alle in diesem Kanton leben, so waren zumindest ihre Eltern oder Grosseltern in Bündner Gemeinden wohnhaft. Aber noch im 19. Jahrhundert besassen viele jenische Familien kein volles Bürgerrecht: Sie zählten zu den "Beisässen", "Angehörigen", "Geduldeten", "Heimathörigen" oder sogar "Heimatlosen". All diese Kategorien minderberechtigter Aufenthalter oder Niedergelassener wurden mit dem schweizerischen "Heimatlosengesetz" von 1850 aufgehoben. Die bundesstaatliche Politik wollte damit Rechtsgleichheit schaffen, aber auch bürgerliche Ordnungsvorstellungen durchsetzen. Tatsächlich entfaltete die Einbürgerungspraxis nun einen hohen Assimilationsdruck. Dies vor allem auch deshalb, weil das Bürgerrecht mit einer staatlichen Fürsorgepflicht gekoppelt war: Die Bürgergemeinden hatten ihre "armengenössigen" Mitbürger zu unterstützen. Vor diesem Hintergrund fragt das Projekt nach dem Umgang der kommunalen und kantonalen Behörden mit der jenischen Bevölkerungsgruppe. Was waren die Handlungsstrategien der Amtsstellen? Welche Resonanz fand ihr Vorgehen in der übrigen Bevölkerung? Welche Rolle spielte dabei das Bild, das man sich in der bürgerlichen Gesellschaft von den Fahrenden bzw. Jenischen machte? Wie sah dieses Bild überhaupt aus; hat es sich im Lauf der Zeit gewandelt? Gefragt ist vor allem auch die Wahrnehmung der Jenischen selbst, so wie sie heute fassbar ist. Welches war, nach der eigenen Erfahrung und Erinnerung von Betroffenen, die Stellung der Jenischen in in der dörflichen Umgebung? Welche Strukturen und Strategien entwickelten jenische Familien? Wie haben sich da die Lebenssituationen und -perspektiven zwischen Familie und Dorf gestaltet? Wo hat sich die individuelle Integration vollzogen - und wie weit? Worauf ist die persönliche Identität bezogen - und wie stark? Das institutionelle Handeln hat sich vor allem im Aktenmaterial niedergeschlagen. Bei der Analyse dieses Materials ist quellenkritische Umsicht gerade dann erforderlich, wenn es um Angehörige einer Minderheit geht, die in den betreffenden Akten erfasst, deren Existenz durch diese Akten "modelliert" werden soll. Ein Korrektiv zu diesem Fremdbild bieten die Erinnerungen der Jenischen selbst. Jenische Biographien und Familienbiographien rekonstruiert das Projekt nach der Methode der "Oral History": In mündlichen Befragungen werden ausgewählte Personen aufgefordert, aus ihrem Leben zu erzählen.

Resultate

Schon im frühen 19. Jahrhundert betrieben die bündnerischen Amtsstellen eine rigorose Kontrolle der Fahrenden und bekämpften offen die fahrende oder halbsesshafte Lebensweise der Jenischen. Die Gemeindebehörden betrieben die "Heimschaffung" der Bedürftigen oder (zuständigenfalls) deren "Versorgung" in kommunalen Armenhäusern bzw. in kantonalen Waisen- oder Korrektionsanstalten. Die staatliche Jenischenpolitik wurde durch weit in die Zivilgesellschaft hineinreichende Netzwerke mitgetragen. Im 19. Jahrhundert waren es vor allem die Aktivisten einer bürgerlichen Reformpolitik, die sich mit der Armenfürsorge und der Heimatlosenfrage befassten - und es dabei für notwendig hielten, die Armen und Heimatlosen zu disziplinieren. Gemeindepolitiker, Lehrer, Pfarrer, Ärzte, die sich in "gemeinnützigen" Vereinigungen fanden, wirkten als Praktiker der Fürsorge wie auch als Träger eines armen- und jenischenkritischen Diskurses. Ab 1880 verstärkte sich zwar der Trend zur Professionalisierung und Verwissenschaftlichung; die Behörden pflegten aber weiterhin eine enge Kooperation mit privaten Initiativen. So gehörte der Kanton Graubünden zu den wichtigsten Aktionsfeldern des "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" (1927 bis 1973). Der bürgerliche Jenischen-Diskurs wurde auch über gedruckte Publikationen verbreitet. Im späten 19. Jahrhundert konzentrierte sich die öffentliche Wahrnehmung auf einige Familien und deren Heimatorte, deren Namen als synonym mit "Kessler und Vaganten" galten. Die Betrachtungen über die "Wesensart" der Fahrenden entsprechen einer Negativfolie des bürgerlichen Selbstbildes. Die erinnerten Lebensgeschichten zeigen: Die Angehörigen der jenischen Minderheit dürfen nicht ausschliesslich in einer passiven Rolle gesehen werden, auch wenn sie durch die staatlichen (und halbstaatlichen) Ausschluss- und Integrationsmassnahmen in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt wurden. So konnten grosse Familien ihren Unterhalt nicht mehr aus dem Hausierhandel bestreiten, seit dieser ab dem späten 19. Jahrhundert zunehmend restriktiv reglementiert wurde. Demgegenüber zeigten sich die jenischen Familienstrukturen anpassungsfähig: Kinder wurden zeitweilig in die Obhut von Verwandten gegeben; der Kreis der zusammenlebenden Familienmitglieder erweiterte oder verengte sich.