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Im Lauf der Zeiten: Oberwalliser Lebenswelten. Ein ethnografischer Film

Ref. 7626

Description générale

Période concernée

1950 - 2003

Région géographique

-

Informations géographiques additionnelles

Wallis (Rhonetal, Goms, Lötschental)

Résumé

Zwischen 1956 und 1970 entstanden im deutschsprachigen Wallis unter dem Patronat der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde acht dokumentarische Filme. Sie wurden innerhalb der Reihe «Sterbendes Handwerk» produziert, die seit den 1940er Jahren besteht und bis heute weitergeführt worden ist (ab 1972 «Altes Handwerk»). Die Konzeption der Filme war ursprünglich der Idee verpflichtet, traditionelle (respektive als traditionell verstandene) handwerkliche Tätigkeiten, Techniken und Produktionsabläufe festzuhalten, bevor sie unwiederbringlich verschwinden und ganz in Vergessenheit geraten. Unter dieser Zielvorgabe gerieten einzelne Vertreter und Vertreterinnen bestimmter Berufe in den Fokus der wissenschaftlichen Filmemacher, so auch im Wallis: der Zinngiesser, der Kupferschmid, der Ofenmacher und der Störschuhmacher, die Weberin und die Strohhutmacherin. Das Projekt greift nun auf das in jenen Jahren entstandene Bildmaterial zurück, um davon ausgehend neue Blickwinkel auf alpine Arbeits- und Lebenswelten zu entwickeln, die dann wiederum filmisch umgesetzt werden sollen. Ausgangspunkt ist die Visionierung und Analyse der alten Filme. Das Dokumentieren von traditionellen Arbeitsformen und -feldern im Geist des Rettens und Sammelns brachte eindrückliche Bilder mit Seltenheitswert hervor, führte aber auch zu thematischen Einschränkungen und Ausblendungen. Einzelne, exakt und detailliert in Szene gesetzte Handgriffe vermögen aus heutiger volkskundlicher Sicht nicht darüber hinwegzutäuschen, dass in den Filmen praktisch das gesamte gesellschaftliche Umfeld, in dem sich die vorgeführten Arbeiten abspielen und wo sie ihren «Sitz im Leben» haben, ausgespart blieb. Allfällige Erläuterungen der sozialen und kulturellen Bedingungen, die einem spezifischen Handwerk zugrunde lagen, waren ausschliesslich den Begleitpublikationen vorbehalten (und wurden auch da nicht wirklich systematisch betrieben). So wird beispielsweise aus dem Film allein nicht ersichtlich, dass der Lötschentaler Störschuhmacher, der im Jahre 1970 seine Fertigkeiten vor der Kamera demonstrierte, in Wirklichkeit seinen Beruf bereits vierzig Jahre zuvor aufgegeben hatte, weil schon damals die Konkurrenz der industriellen Schuhproduktion zu gross war. Das Aufzeigen solcher Perspektivenverengungen und der daraus resultierenden «blinden Flecken» dient dazu, dem Forschungsprojekt neue Wege zu erschliessen. Um den heutigen Arbeitswelten im Wallis möglichst gerecht zu werden (im filmdokumentarisch-ethnographischen Sinn), sind neuartige Zugangsweisen gefragt, die über den methodologischen und szenischen Horizont der alten Filme hinausgehen. Im Zentrum des Interesses sollen deshalb nicht nur die Arbeitsweisen und -techniken der heute im Wallis lebenden Menschen stehen, sondern insbesondere auch deren eigene Wahrnehmung ihrer Tätigkeiten und Verrichtungen. Dies bedeutet mitunter eine inhaltliche Ausweitung vom eigentlichen Feld der Arbeit in den generellen Bereich der Lebenswelt, und es bedeutet auch eine geographische Erweiterung um die Dimension der Arbeitsmigration (v.a. Abwanderung aus den Bergtälern in die Städte, Rückwanderung in späteren Lebensphasen). Doch trotz allen inhaltlichen Neu-Positionierungen bleibt im neu geplanten Film der Bezug zu den historischen Filmen stets sichtbar. Sie sind der verbindliche Referenzpunkt, wenn es gilt, vergangene Arbeitswelten zu veranschaulichen. Von ihren Bildern ausgehend soll der Bogen in die Gegenwart geschlagen und damit ein Feld abgesteckt werden, das sich zwischen den heute gelebten Arbeits-Alltagen und den einst erlebten (und heute noch erinnerten) handwerklichen Berufen erstreckt. Nicht zuletzt auch die Auswahl der Gewährspersonen hält Verbindungslinien zum alten Bildmaterial aufrecht: Es sind zu einem grossen Teil die Nachfahren der damals gefilmten Protagonisten, ergänzt durch sachkundige Berufsgenossen, Ortshistoriker oder Volkskundler. In semi-strukturierten, qualitativ-biographischen Interviews werden sie sowohl zur Vergangenheit wie zur Gegenwart befragt und in ihrem alltäglichen Berufsumfeld porträtiert. Ihre Erinnerungen, ihre persönlichen Erfahrungen, ihr Wissen um die damaligen wie heutigen Arbeitsverhältnisse (oder eben gerade auch ihr Nicht-Wissen) und ihr Umgang damit machen den Kern dieser Film-Ethnographie aus. Sie zielt letztlich auf das Dokumentieren des Wandels der Arbeits- und Lebenswelten im Wallis des letzten halben Jahrhunderts. In diesem Feld hat ein kultureller, sozialer und ökonomischer Wandel stattgefunden, der bisweilen - und ganz besonders im Wallis - Züge einer fundamentalen Umwälzung angenommen und letztlich das Erscheinungsbild einer ganzen Region massgebend geprägt hat. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen vor Ort haben sich im Zuge des sich ausbreitenden Massentourismus, der «Industrialisierung der Alpen» (Tourismusindustrie), etwas später dann auch der «Urbanisierung», «Ökologisierung» und «Globalisierung» alpiner Freizeitzentren stark verändert. Das «alte», «sterbende» Handwerk ist nicht nur noch mehr in die Jahre gekommen, es ist heutzutage so gut wie ausgestorben. Und wo es noch lebt, ist es längst einem neuen «Handling» (Handhabung, Gebrauch) unterworfen - d.h. es hat in Funktion, Bedeutung, Aus- und Aufführung längst neue (spätmoderne) Formen angenommen, die mit dem traditionellen Berufsbild nichts mehr gemein haben.

Résultats

Der Ethnologe Thomas Antonietti bemerkte kürzlich, dass die Walliser heutzutage von ihrem Lebensstil her nicht anders leben würden als Leute in Zürich oder Bern. Er spielte damit auf den kulturellen und sozialen Wandel an, der im Wallis insbesondere in den letzten 40 Jahren stattgefunden hat. "Im Lauf der Zeiten" geht der Frage nach, wie die heute hier lebenden Menschen diese Veränderungen sehen und interpretieren. Im Jahr 2003 befragte der Kulturwissenschaftler Marius Risi sieben ausgewählte Männer und Frauen aus dem Oberwallis nach ihrer Sicht der Dinge - nach ihren Erfahrungen, Deutungen und Erinnerungen im Kontext des Wandels - und hielt ihre Antworten mit der Videokamera fest. Die so entstandenen Interviews machen den Kern der Filmerzählung aus. Ergänzt wird sie durch historisches Filmmaterial aus dem Archiv der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (entstanden zwischen 1956 und 1970 in der Reihe "Altes Handwerk"). Weil die Interviewpartner in einem engen Bezug zu den Inhalten oder Personen dieser alten Filme stehen, erhält das Reden über die Veränderungen der Lebenswelten auch eine persönliche Note. Der Einzug der Moderne in die europäischen Gesellschaften ist ein komplexer historischer Prozess. Er verlief nicht einheitlich linear, sondern vollzog sich über die Umwege zahlreicher Aussparungen, Retardierungen oder Rückwärtsbewegungen. Dies gilt auch für die alpenländische Region des Oberwallis. Eine (im schweizerischen Vergleich) relativ zeitgemässe Modernisierung lässt sich im späteren 19. Jahrhundert für die aufstrebenden Fremdenverkehrsorte (Paradebeispiel: Zermatt) und die von der Eisenbahn im Rhonetal erschlossenen Dörfer mit industriellen Fabrikationsbetrieben feststellen. Sie wirkte tief in die Bereiche des alltäglichen Lebens hinein, indem sie für die ortsansässige Bevölkerung neue Betätigungsfelder und Kontakte ermöglichte: Aus Bergbauern wurden Bergführer, Hotelangestellte (vereinzelt auch Hoteliers) oder Fabrikarbeiter - allerdings meist ohne den Stammberuf ganz aufzugeben. Dem gegenüber steht eine späte Modernisierung vor allem hinsichtlich der ökonomischen Strukturen und der infrastrukturellen Ausstattung. In der Regel erst ab den 1960er Jahren kam die Ausformung der gegenwärtigen Dienstleistungs- und Freizeitgesellschaft in Gang, in deren Verlauf die alles dominierende Landwirtschaft und die mit ihr verbundenen Lebens- und Arbeitswelten kontinuierlich an Terrain verloren. Gleichzeitig passten sich auch Strassen- und Hausbau, Wasserversorgung oder Heizungstechnik langsam aber stetig an die landesweit üblichen, modernen Standards an. Die Spuren dieser Modernisierungsprozesse lassen sich heute in zahlreichen Oberwalliser Lebensgeschichten wieder finden. Die relativ schnellen und dichten Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse wirkten in die biografischen Erfahrungen der einzelnen Menschen ein. Die beiden Vertreter der ältesten Generation im Film (mit den Jahrgängen 1917 und 1923) bewerten den Weg hin zum modernen Leben grundsätzlich positiv, ohne hingegen die negativen Aspekte zu übersehen. Viktor Minnig aus Betten - der seinen Lebensunterhalt als Bergbauer verdiente, bis er mit 54 Jahren eine Anstellung als Filialleiter des Dorfladens annahm - berichtet, dass das frühere Leben "primitiv", und "der Neid damals grösser als heute" gewesen sei. Er erinnert sich gut an die Einführung technischer Neuerungen im Dorf (Elektrisches Licht 1931, Seilbahn 1951, Telefon 1960er Jahre) und konstatiert ohne wehmütigen Unterton das Verschwinden von Traditionen. Dem entgegen steht das Verlustempfinden des pensionierten Gymnasiallehrers Alois Grichting (Jahrgang 1933) aus Brig-Glis. Als ETH-Student, Informationsbeauftragter der Diözese Sitten oder Governor des Rotary-Klubs führte er in all seinen Lebensabschnitten ein ausgeprägt modernes Leben. In der handwerklichen Arbeit seines Onkels (der 1970 von volkskundlichen Filmemachern porträtiert wurde) erkennt er verloren gegangene Werte wie Einfachheit, Ausdauer, Religiosität und Heimatverbundenheit. Die historischen (Film-)Welten werden hier zum rhetorischen Referenzpunkt in der Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Welt. Auch die Coop-Kassiererin Käthi Ritler-Lehner (Jahrgang 1968) empfindet es als "schon nicht schlecht, wenn man die Traditionen noch ein bisschen pflegt." Sie sitzt in ihrer Freizeit gerne an ihrem über zweihundertjährigen Webstuhl, den sie vom Estrich eines alten Bauernhauses ins Kinderzimmer ihrer Mietblockwohnung geholt hat. Die Beschäftigung mit dem Alten ist für sie in erster Linie eine praktisch ausgerichtete Tätigkeit, die ohne grosse Worte auskommt. Dieser pragmatische Zugang verbindet sie mit der zweiten Frau im Film, der aus Georgien zugezogenen Anastasia Wassoli-Rieder (Jahrgang 1980) aus Wiler/Lötschen. Sie sieht den kulturellen Wandel auch als Chance, die schönen Seiten des Traditionellen mitzunehmen, gezielt mit Neuem zu kombinieren und so weiterzuentwickeln. Die von den interviewten Personen genannten Innensichten auf die eigene lokale oder regionale Gesellschaft korrespondieren mit den Modernisierungsprozessen. Die schon relativ früh ausgeprägte, grosse Mobilität breiter Bevölkerungsschichten (die berufsbedingte Reisetätigkeit eines oder einer Hotelangestellten war schon vor hundert Jahren beträchtlich und ging weit über die Kantonsgrenzen hinaus) brachte es mit sich, dass die Oberwalliser und Oberwalliserinnen immer auch aus eigener Erfahrung Vergleiche mit anderen Regionen und Lebensstilen ziehen konnten. Sie wussten also um die Eigenheiten der modernen (urbanen) Welten sehr wohl Bescheid und lebten diese in bestimmten Abschnitten ihres Lebens sogar auch selbst. Ihre eigene späte Modernisierung, die in der Aussenperspektive stark mit dem Stigma der Rückständigkeit versehen ist, interpretieren sie heute eher als gesundes Wachstum. Dem jahrzehntelangen, Not gedrungenen Verzicht gewinnen sie auch positive Aspekte ab - oder wie es Philipp Kalbermatten (Jahrgang 1946) aus Blatten formuliert: "Hätten wir alles gehabt, hätten wir auch überall so Spinn-Blöcke aus Beton aufgestellt." Die (zunächst von aussen an sie herangetragene) Verklärung der eigenen harten Existenz - gerade auch die alte Volkskunde leistete hier ganze Arbeit - nahmen sie in der Regel gerne an. Sie spielten das Spiel der Idyllisierung der "alpinen Volkskultur" im Verlauf der letzten 150 Jahre mit. Bis heute zeigt sich dies in einer grundsätzlich positiven Konnotation des Althergebrachten und Traditionellen, das für die Konstituierung des Eigenen nach wie vor von zentraler Bedeutung ist.