Sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch in der wissenschaftlichen Literatur existieren sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, was eine Drogenszene genau ist bzw. was sie ausmacht und wodurch sie sich konstituiert. Die meisten bisher zu diesem Thema durchgeführten Studien konzentrieren sich auf die sozialstatistische Beschreibung und Analyse der in der Drogenszene verkehrenden DrogenkonsumentInnen. Nur wenige Forschungsprojekte entwickeln entweder eine Typologie von Drogenszenen aufgrund äusserer Merkmale oder setzen sich mit der Drogenszene als einem soziokulturellen Phänomen auseinander. Studien bzw. Artikel, die sich den Fragen widmen, wodurch sich die Drogenszene konstituiert, bzw. was eine Drogenszene in ihrem Inneren ausmacht, und welche Bedeutung und Funktion die Drogenszene für die Drogenkonsumierenden hat, fehlen bislang weitgehend.
Das vorliegende Forschungsprojekt leistet einen Beitrag zur Erhellung genau dieser Fragen, deren Bedeutung nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Schliessung der ehemals offenen Drogenszene "Letten" hinsichtlich der vielfältigen Spekulationen darüber, was mit der Szene nach ihrer Auflösung passiere, deutlich geworden ist.
Mit dem Projekt werden inhaltlich zwei eng miteinander verknüpfte Ziele verfolgt:
1) Im Anschluss an die Schliessung der offenen Drogenszene "Letten" in Zürich sollen Erkenntnisse über Existenz, Struktur und Wandel von Drogenszenen in der Schweiz gewonnen werden. Eine gesamtschweizerische Bestandesaufnahme soll dabei einen Überblick liefern. Eine vertiefende, qualitative Analyse in den Städten Zürich, Basel und Luzern soll danach exemplarisch eine detaillierte Beschreibung der lokalen Drogenszenen erlauben, wobei sowohl die Innenperspektive (die Sichtweise der Drogenkonsumierenden) als auch die Aussenperspektive (die Sichtweise der ExpertInnen aus den Bereichen Polizei, Sozialarbeit und drogenpolitischen Behörden) berücksichtigt werden.
2) Das Projekt verfolgt darüberhinaus eine theoretische wie auch empirisch abgestützte Auseinandersetzung mit dem Phänomen "Drogenszene" als einem sozio-kulturellen Gebilde. Hier wird insbesondere die Bedeutung und Funktion der Drogenszene für Drogenkonsumierende analysiert werden.
Von der Studie sind für die Bereiche "Drogenprävention" und "Drogentherapie" (insbesondere hinsichtlich einer effektiven Rückfallprophylaxe) wertvolle Ergebnisse zu erwarten. Der Begriff "Drogenszene" wird im vorliegenden Forschungsprojekt einer kritischen Diskussion unterzogen. Damit möchte die Studie einerseits einen wichtigen Beitrag zur Entmystifizierung der Drogenszene leisten, andererseits zur Versachlichung der gegenwärtigen und zukünftigen drogenpolitischen Diskussion beitragen.
Fragestellung: Die Hauptfragestellungen für das erste Forschungsziel lauten:
- Wo existieren in der Schweiz überall Drogenszenen?
- Was für eine Struktur weisen sie auf?
- Welchen Einfluss hatte die Schliessung der offenen Drogenszene "Letten" auf diese Drogenszenen?
Die Ausgangsfrage für das zweite Forschungsziel lässt sich folgendermassen formulieren:
- Sind Drogenszenen kulturell verfestigte soziale Gruppen, die sich durch spezifische und gemeinsam geteilte Normen und Werte auszeichnen, oder sind sie eher lose, über den Handel und Konsum hinaus wenig verbindliche Aggregate vereinzelter Individuen? In diesem Zusammenhang interessieren die Fragen welche Bedeutung und Funktion die Drogenszene für die Drogenkonsumierenden hat, und wie sich die Schliessung der offenen Drogenszene "Letten" auf die ehemaligen, regelmässigen "Letten"-GängerInnen ausgewirkt hat.
Drei forschungsleitende Hypothesen stehen dabei im Zentrum:
1) Drogenszenen sind relativ geschlossene Gebilde, die als Subkultur bezeichnet werden können (Drogenszene = Subkultur).
2) Drogenszenen sind relativ lose Kollektivitäten, die sich über gemeinsam geteilte Lebensstilelemente konstituieren (Drogenszene = Netzwerk).
3) Drogenszenen sind ökonomische Systeme, die allein durch den Handel und den Konsum von Drogen strukturiert sind (Drogenszene = Schicksalsgemeinschaft, rein ökonomisch geprägte soziale Beziehungen).
Die drei Typen "Subkultur", "Netzwerk" und "Lebenslage" verstehen wir als Teile eines differenzierten Modelles, welches die Drogenszene nicht mehr als ein homogenes Gefüge versteht sondern als ein komplex strukturiertes und kulturell sehr differenziert gestaltetes soziales Gebilde. Diese drei Typen können auch unterschiedliche Stationen einer individuellen Drogenkarriere darstellen.
Für die in Gang kommende Dynamik im Zusammenhang mit der Auflösung der offenen Drogenszene "Letten" sind vor dem skizzierten Hintergrund folgende Szenarien denkbar: Wenn Drogenszenen sozial verfestigte Subkulturen sind, dann ist es wahrscheinlich, dass sie sich in Räume verlagern, die von der Repression weniger erfasst werden, in ihrer strukturellen und kulturellen Verfasstheit jedoch ungebrochen weiterbestehen. Möglicherweise fördert ein erhöhter Druck von aussen gar die Festigung eines subkulturellen Zusammenhalts und eines entsprechenden Bewusstseins.
Wenn Drogenszenen dagegen soziale Aggregate sind, die sich primär durch den Drogenhandel und -konsum von Einzelnen konstituieren, dann ist anzunehmen, dass sie sich den veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen (Schliessung des offenen illegalen Drogenmarktes) anpassen. Ausser einer Umstrukturierung des Handels würden sich für die Drogenkonsumierenden keine wesentlichen Veränderungen ergeben.
Der Schritt in die Drogenszene mag in unterschiedlichen persönlichen und sozialen Krisenlagen begründet liegen. Es ist sinnvoll, solchen Krisenlagen, sog. Push-Faktoren, differenzierte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Gleiches gilt auch für die Pull-Faktoren, welche den Einstieg in die Drogenszene oder das Festhalten am Konsum illegaler Drogen begünstigen.