Drogenszenen-Forschung. Struktur und Wandel von Drogenszenen in der Schweiz im Anschluss an die Aufhebung der offenen Drogenszene "Letten" in Zürich

Ref. 4146

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Gesamtschweiz mit Vertiefung in Zürich, Basel und Luzern

Abstract

Sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch in der wissenschaftlichen Literatur existieren sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, was eine Drogenszene genau ist bzw. was sie ausmacht und wodurch sie sich konstituiert. Die meisten bisher zu diesem Thema durchgeführten Studien konzentrieren sich auf die sozialstatistische Beschreibung und Analyse der in der Drogenszene verkehrenden DrogenkonsumentInnen. Nur wenige Forschungsprojekte entwickeln entweder eine Typologie von Drogenszenen aufgrund äusserer Merkmale oder setzen sich mit der Drogenszene als einem soziokulturellen Phänomen auseinander. Studien bzw. Artikel, die sich den Fragen widmen, wodurch sich die Drogenszene konstituiert, bzw. was eine Drogenszene in ihrem Inneren ausmacht, und welche Bedeutung und Funktion die Drogenszene für die Drogenkonsumierenden hat, fehlen bislang weitgehend. Das vorliegende Forschungsprojekt leistet einen Beitrag zur Erhellung genau dieser Fragen, deren Bedeutung nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Schliessung der ehemals offenen Drogenszene "Letten" hinsichtlich der vielfältigen Spekulationen darüber, was mit der Szene nach ihrer Auflösung passiere, deutlich geworden ist. Mit dem Projekt werden inhaltlich zwei eng miteinander verknüpfte Ziele verfolgt: 1) Im Anschluss an die Schliessung der offenen Drogenszene "Letten" in Zürich sollen Erkenntnisse über Existenz, Struktur und Wandel von Drogenszenen in der Schweiz gewonnen werden. Eine gesamtschweizerische Bestandesaufnahme soll dabei einen Überblick liefern. Eine vertiefende, qualitative Analyse in den Städten Zürich, Basel und Luzern soll danach exemplarisch eine detaillierte Beschreibung der lokalen Drogenszenen erlauben, wobei sowohl die Innenperspektive (die Sichtweise der Drogenkonsumierenden) als auch die Aussenperspektive (die Sichtweise der ExpertInnen aus den Bereichen Polizei, Sozialarbeit und drogenpolitischen Behörden) berücksichtigt werden. 2) Das Projekt verfolgt darüberhinaus eine theoretische wie auch empirisch abgestützte Auseinandersetzung mit dem Phänomen "Drogenszene" als einem sozio-kulturellen Gebilde. Hier wird insbesondere die Bedeutung und Funktion der Drogenszene für Drogenkonsumierende analysiert werden. Von der Studie sind für die Bereiche "Drogenprävention" und "Drogentherapie" (insbesondere hinsichtlich einer effektiven Rückfallprophylaxe) wertvolle Ergebnisse zu erwarten. Der Begriff "Drogenszene" wird im vorliegenden Forschungsprojekt einer kritischen Diskussion unterzogen. Damit möchte die Studie einerseits einen wichtigen Beitrag zur Entmystifizierung der Drogenszene leisten, andererseits zur Versachlichung der gegenwärtigen und zukünftigen drogenpolitischen Diskussion beitragen. Fragestellung: Die Hauptfragestellungen für das erste Forschungsziel lauten: - Wo existieren in der Schweiz überall Drogenszenen? - Was für eine Struktur weisen sie auf? - Welchen Einfluss hatte die Schliessung der offenen Drogenszene "Letten" auf diese Drogenszenen? Die Ausgangsfrage für das zweite Forschungsziel lässt sich folgendermassen formulieren: - Sind Drogenszenen kulturell verfestigte soziale Gruppen, die sich durch spezifische und gemeinsam geteilte Normen und Werte auszeichnen, oder sind sie eher lose, über den Handel und Konsum hinaus wenig verbindliche Aggregate vereinzelter Individuen? In diesem Zusammenhang interessieren die Fragen welche Bedeutung und Funktion die Drogenszene für die Drogenkonsumierenden hat, und wie sich die Schliessung der offenen Drogenszene "Letten" auf die ehemaligen, regelmässigen "Letten"-GängerInnen ausgewirkt hat. Drei forschungsleitende Hypothesen stehen dabei im Zentrum: 1) Drogenszenen sind relativ geschlossene Gebilde, die als Subkultur bezeichnet werden können (Drogenszene = Subkultur). 2) Drogenszenen sind relativ lose Kollektivitäten, die sich über gemeinsam geteilte Lebensstilelemente konstituieren (Drogenszene = Netzwerk). 3) Drogenszenen sind ökonomische Systeme, die allein durch den Handel und den Konsum von Drogen strukturiert sind (Drogenszene = Schicksalsgemeinschaft, rein ökonomisch geprägte soziale Beziehungen). Die drei Typen "Subkultur", "Netzwerk" und "Lebenslage" verstehen wir als Teile eines differenzierten Modelles, welches die Drogenszene nicht mehr als ein homogenes Gefüge versteht sondern als ein komplex strukturiertes und kulturell sehr differenziert gestaltetes soziales Gebilde. Diese drei Typen können auch unterschiedliche Stationen einer individuellen Drogenkarriere darstellen. Für die in Gang kommende Dynamik im Zusammenhang mit der Auflösung der offenen Drogenszene "Letten" sind vor dem skizzierten Hintergrund folgende Szenarien denkbar: Wenn Drogenszenen sozial verfestigte Subkulturen sind, dann ist es wahrscheinlich, dass sie sich in Räume verlagern, die von der Repression weniger erfasst werden, in ihrer strukturellen und kulturellen Verfasstheit jedoch ungebrochen weiterbestehen. Möglicherweise fördert ein erhöhter Druck von aussen gar die Festigung eines subkulturellen Zusammenhalts und eines entsprechenden Bewusstseins. Wenn Drogenszenen dagegen soziale Aggregate sind, die sich primär durch den Drogenhandel und -konsum von Einzelnen konstituieren, dann ist anzunehmen, dass sie sich den veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen (Schliessung des offenen illegalen Drogenmarktes) anpassen. Ausser einer Umstrukturierung des Handels würden sich für die Drogenkonsumierenden keine wesentlichen Veränderungen ergeben. Der Schritt in die Drogenszene mag in unterschiedlichen persönlichen und sozialen Krisenlagen begründet liegen. Es ist sinnvoll, solchen Krisenlagen, sog. Push-Faktoren, differenzierte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Gleiches gilt auch für die Pull-Faktoren, welche den Einstieg in die Drogenszene oder das Festhalten am Konsum illegaler Drogen begünstigen.

Results

Quantitative Datenanalyse. Drogenszenen existierten Anfang 1996 in beinahe allen befragten Gemeinden (88%), und zwar in allen Sprachregionen der Schweiz. Rund die Hälfte der Gemeinden verfügte über eine öffentlich sichtbare, die andere Hälfte über eine eher verdeckte Szene 'harter' illegaler Drogen. Auch der Handel mit 'harten' illegalen Drogen ist überall in der Schweiz verbreitet. In allen befragten Gemeinden existierte Anfang 1996 sowohl der generelle Handel im privaten Rahmen als auch der spezifische Kleinhandel von Drogenabhängigen. Die gängigen 'harten' illegalen Drogen Heroin und Kokain werden in fast allen befragten Gemeinden angeboten. Erwartungsgemäss war die Verbreitung des Heroins Anfang 1996 am grössten, gefolgt von Kokain und Rohypnol; LSD hingegen scheint gesamtschweizerisch von eher marginaler Bedeutung zu sein. Was die Drogenpreise anbelangt, fällt die enorme Spannbreite der von den antwortenden Gemeinden genannten Preise bei allen Substanzen auf. In der Romandie und im Tessin erwiesen sich die Preise für Heroin, Kokain und Rohypnol erheblich höher als in der deutschen Schweiz. Der Zusammenhang zwischen Drogenangebot, Drogenpreisen und räumlicher Mobilität lässt sich am Beispiel von Zürich, Basel und Luzern klar aufzeigen. Alle drei Städte üben eine 'Sogwirkung' auf die je umliegende Region aus. Von den befragten Gemeinden schätzten Anfang 1996 über 70% den Anteil an sozial desintegrierten Drogenabhängigen in ihrer lokalen Szene auf höchstens 20%. Die fünf wichtigsten Problemlagen, mit denen sich die befragten Gemeinden mit einer existierenden Drogenszene Anfang 1996 konfrontiert sahen, sind der organisierte Drogenhandel, der Neueinstieg Jugendlicher, die Verwahrlosung bzw. die Gesundheit der KonsumentInnen sowie die Beschaffungskriminalität. Im Verlaufe des Jahres 1995 scheint sich die 'Szenenlandschaft' in der Schweiz nicht wesentlich verändert zu haben. In rund 95% der befragten Gemeinden existierte Anfang 1996 dieselbe Art von Drogenszene wie ein Jahr zuvor. Wo in dieser Zeitspanne Veränderungen stattgefunden haben, zeigt sich jedoch eine leichte Tendenz zum Anwachsen der Drogenszenen. Beim Handel mit 'harten' illegalen Drogen resultierte im Jahresvergleich mehrheitlich eine unveränderte Situation. Wo Veränderungen beobachtet wurden, tendierten diese allerdings zu einer Zunahme. Das Drogenangebot erfuhr im Untersuchungszeitraum grundsätzlich keine wesentlichen Änderungen. Obwohl Ecstasy nicht zu den 'harten' illegalen Drogen gezählt wird, vermerkten 76% der antwortenden Gemeinden ein steigendes Angebot dieser Substanz im Verlaufe des Jahres 1995. Was die Drogenpreise anbelangt, waren sie starken Schwankungen unterworfen. Was die 'auswärtigen' Drogenkonsumierenden anbelangt, so blieb ihr Anteil in rund drei Vierteln der befragten Gemeinden unverändert. Von Veränderungen betroffen waren besonders Orte, deren Drogenszene eine regionale und/oder überregionale Bedeutung hat, das heisst Gemeinden, deren lokale Drogenszene von einem hohen Anteil von Drogenkonsumierenden mit Wohnsitz ausserhalb der betreffenden Gemeinden aufgesucht wird. Was die Konsumform anbelangt, stellten fast 40% der befragten Gemeinden eine Zunahme des Folienrauchens fest, wogegen sich beim intravenösen Konsum eher eine leichte Tendenz zur Abnahme abzeichnete. Im Verlaufe des Jahres 1995 scheinen die Polizeiaktivitäten insgesamt verstärkt worden zu sein, während bei den Drogenhilfsangeboten die Situation im Jahresvergleich mehrheitlich unverändert war. Entgegen verbreiteter Befürchtungen im Vorfeld der Räumung hatte die Letten-Schliessung insgesamt wenig Einfluss auf die Drogensituation der befragten Gemeinden. Qualitative Datenanalyse. Die meisten interviewten Drogenkonsumierenden hatten vor Beginn ihres illegalen Drogenkonsums bereits einschlägige Konsumerfahrungen mit legalen Substanzen wie Alkohol und Nikotin. Nicht nur der erste Haschischkonsum, sondern auch der erste Heroin- bzw. Kokainkonsum erfolgt in der Regel im gleichaltrigen Freundes- und Bekanntenkreis. Das Hauptmotiv dabei ist Neugier. Nebst der eintretenden körperlichen Abhängigkeit begünstigen auch bestimmte Risikofaktoren wie der schmerzhafte Abbruch einer Liebesbeziehung und/oder gravierende Beziehungsprobleme mit den Eltern sowie der Verlust des Arbeitsplatzes oder ein Lehrabbruch den Beginn eines exzessiven, unkontrollierten Drogenkonsums. Die Drogenszene wird in erster Linie in ihrer Funktion als Drogenerwerbs- und handelsplatz aufgesucht. Besonders für einen Teil der arbeits- und obdachlosen Drogenkonsumierenden kann die Drogenszene zum vorübergehenden Lebens- und Wohnort werden. Für einige verheisst die Drogenszene den Ausbruch aus einer einengend und langweilig empfundenen Wirklichkeit. Der tatsächliche physische und psychische Überlebenskampf setzt jedoch nach einer gewissen Zeit einen ernüchternden Entzauberungsprozess in Gang. Innerhalb der Drogenszene unterscheiden sich die grundlegenden Wertorientierungen nicht prinzipiell von denjenigen der Gesamtgesellschaft. Der Kontext der Illegalität fördert eine ausgeprägte EinzelkämpferInnenkultur. Viele der interviewten Drogenkonsumierenden bringen eine ausgeprägte Sehnsucht nach einer Normalisierung ihres Alltags zum Ausdruck. Für die meisten ist die Drogenabstinenz hingegen keine Perspektive; sie wünschen sich längerfristig einen kontrollierten, gesellschaftlich akzeptierten Drogenkonsum im Rahmen einer sonst unauffälligen Lebensführung. Ausstiegswillige Drogenkonsumierenden sehen sich unter anderem mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass sich eine langjährige Drogenszenenerfahrung in der 'normalen' Lebens- und Arbeitswelt in keiner Weise verwerten lässt und einseitig als verlorene Lebenszeit angesehen wird.