Neue Kriege? Gegenwärtige Herausforderungen für die humanitäre Arbeit des IKRK, Fallbeispiel Afghanistan

Ref. 8667

Allgemeine Beschreibung

Periode

Querschnittsanalyse 12 Konfliktzonen: 1998/1999 Fallbeispiel Afghanistan: 1993-1998

Geographischer Raum

-

Zusätzliche geographische Informationen

12 Konfliktzonen: Israel und besetzte Gebiete, Afghanistan, Bosnien-Herzegowina, Kambodscha, Kolumbien, El Salvador, Georgien-Abchasien, Libanon, Nigeria, Philippinen, Somalia und Südafrika Fallbeispiel: Afghanistan

Kurzbeschreibung

Bereits 1863 wurden mit der Gründung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes dessen Grundsätze festgelegt. In den sogenannten "ten resolutions" ging es vor allem darum, die Verwundeten in einem Krieg, unabhängig von welcher Seite sie stammten, angemessen zu versorgen. Dieses Prinzip der Unparteilichkeit gegenüber den Hilfsbedürftigen, sowie das der Neutralität gegenüber den Kriegsparteien waren von Anfang an grundlegend und bilden bis heute die Voraussetzung für die Arbeit des IKRK. Besonders die Zeit seit 1990 ist für das IKRK durch eine Reihe von tragischen Ereignissen gekennzeichnet. Die Anzahl von Delegierten, die bei Einsätzen ihr Leben verloren, wuchs auf ein Niveau an, welches nie zuvor in der Geschichte des IKRK erreicht wurde. Dieser Trend wird oft mit dem Anstieg innerstaatlicher Konflikte sowie mangelndem Respekt der beteiligten Konfliktparteien vor den Bestimmungen der Genfer Konventionen und ihrer Schutzzeichen begründet. Durch die heutige Komplexität von Kriegen und Konflikten, in denen unterschiedliche militante Gruppen -wie Rebellen, Guerillafraktionen oder Räuberbanden- und zudem oft auch westliche Mächte und Militärs mitwirken, wird eine neutrale Positionierung des IKRK zunehmend schwieriger, nicht nur aus eigener Perspektive, sondern vermehrt in der Wahrnehmung der unterschiedlichen Kriegsakteure. Diese Veränderungen können für das IKRK schwerwiegende Folgen haben. Wird das IKRK in zukünftigen Konflikten von den Kriegsakteuren nicht als neutrale Institution wahrgenommen, verliert sie ihre Legitimation; jenen Kern, welcher ihr Handeln in Krisengebieten erst ermöglicht? Wie verhält sich das IKRK gegenwärtig im Umgang mit dieser Problematik, was wird unternommen, damit die Institution weiterhin möglichst neutral - gemäss ihren Grundsätzen - wahrgenommen wird? Ist eine solche politische Positionierung im heutigen Kontext überhaupt noch möglich? Die Forschungsarbeit stellt in diesem Zusammenhang ein analytisches Grundlagenpapier dar. Dieses versucht einen Teil der gegenwärtigen Problematik von Hilfswerken klar zu formulieren und in einen Kontext stellen, um so eine weitere, auf sachlicher Ebene geführte Diskussion zu ermöglichen. In einem ersten Teil wird in Bezug auf die Fragestellung der theoretische Hintergrund (Kapitel 3) aufgezeichnet, welcher uns schliesslich zu unserer Arbeitsthese (Kapitel 4) führt. In einem zweiten Teil der Arbeit wird das methodische Vorgehen (Kapitel 5) dargelegt, eine Hypothese generiert (Kapitel 6.2) und die empirische Überprüfung (Kapitel 6) durchgeführt. Bei letzterer wird eine Querschnittsanalyse (Lineare Regressionsmodelle, SPSS) von zwölf Konfliktzonen vorgenommen. Die Daten hierzu liefert die Untersuchung "People on War" (Greenberg Research inc./IKRK 1999a). In einem dritten Teil werden die Resultate aus der empirischen Untersuchung anhand des Fallbeispiels Afghanistan (Kapitel 7) überprüft. Zu diesem Zweck verwendeten wir die Annual Reports von 1993-1998 (IKRK) sowie Informationen aus dem Experteninterview mit Herrn Mohammad Asef Sobhi Gardezi (Senior Health Advisor beim IKRK in Afghanistan). Kapitel 8 beinhaltet eine abschliessende Zusammenfassung der Resultate im Bezug auf die Fragstellung.

Resultate

Im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit konnten wir nachweisen, dass sich Änderungen der Ausgaben, bzw. verschiedene Gewichtungen von gewissen Ausgabenkategorien seitens des IKRK besonders ausgeprägt auf die Meinung von Kombattanten bezüglich möglicher Angriffe auf helfende Zivilisten auswirken. Dieser statistische Zusammenhang wird in der Arbeit interpretiert und diskutiert. Doch vergegenwärtigen wir uns doch noch einmal, was diese Aussagen bedeuten: Die statistischen Zusammenhänge sagen aus, dass in jenen Ländern, in welchen im Verlaufe des Jahres 1998 anteilmässig am Gesamtbudget viel Geld für Aufklärung, medizinische Projekte und Schutzaufgaben und wenig für operationellen Support investiert wurde, tendenziell im folgenden Jahr eine geringere Zustimmung zu Angriffen auf helfende Zivilisten bestand. Die in Kapitel 6.2 formulierte Hypothese wird durch die Ergebnisse der Regressionen gestützt. Demnach besteht ein Zusammenhang zwischen den Bemühungen des IKRK um eine positive Wahrnehmung seitens der Kriegsakteure und den Sicherheitsbedingungen für ihre tägliche Arbeit. Doch das Fehlen der zeitlichen Dimension stellt eine Schwäche dieser Querschnittsanalyse dar. Auf die Frage, wie sich die Unterschiede der Verteilung der Ausgabenkategorien in den verschiedenen Krisengebieten entwickelten und wie die Grundstimmung der Bevölkerung in einer Region mit historischen Ereignissen verknüpft ist, gibt diese Versuchsanordnung keine Antwort. Denn alle Ausgaben als Kupplungsprodukte vorherrschender Sicherheitssituationen interpretiert werden. Herrscht etwa ein akuter, mit militärischen Mitteln geführter Konflikt, ergeben sich gewisse Einschränkungen für das IKRK, die bei einem schwelenden Konflikt oder einer Zeit des Waffenstillstandes nicht vorhanden sind. Diese Tatsache spricht jedoch nicht gegen die gewonnenen Erkenntnisse. Denn mit Blick auf die in Kapitel 4 formulierte Arbeitsthese, dass das IKRK aufgrund der stark veränderten Kriegsformen und -realitäten der letzten Jahrzehnte an Einfluss verloren hat, bzw. überhaupt keinen Einfluss mehr geltend machen kann, zeigen die besprochenen statistischen Zusammenhänge klar gegenteilige Tendenz. Die Arbeitsthese kann aufgrund der Ergebnisse im Rahmen dieser Arbeit falsifiziert werden. In einem zweiten empirischen Teil untersuchten wir als Fallbeispiel den Afghanistankonflikt im Zeitraum von 1993-1998, um der erwähnten fehlenden zeitlichen Dimension -wenn auch nur in einem beschränkten Rahmen- Beachtung zu schenken. Anhand des Fallbeispiels Afghanistan überprüften wir, ob und wie weit sich die Ergebnisse aus der Querschnittanalyse begründen lassen, bzw. wie sich die Ausgaben mit dem Verlauf des Konfliktes veränderten und ob die Ausgabenkategorien tatsächliche die Situation und die Sicherheitslage für das IKRK vor Ort abbilden können. In den Jahren 1993 bis 1997 fand hinsichtlich der Sicherheitslage in Afghanistan und den davon abhängigen Arbeitsbedingungen des IKRK eine kontinuierliche Beruhigung der Situation, bzw. eine Verbesserung der Akzeptanz und der Wahrnehmung des IKRK statt. Diese verbesserte Sicherheitslage für das IKRK muss nicht einhergehen mit einer generellen Beruhigung des Konfliktes, sondern kann sich aufgrund eines Zusammenspiels verschiedener Faktoren ergeben, die sich schlussendlich positiv für das IKRK auswirken. Die Beruhigung äussert sich durch den verhältnismässig verringerten Aufwand im medizinischen Bereich (weniger Kampfhandlungen, weniger verletzte Kombattanten), geringere Ausgaben im operationellen Bereich (weniger Schutzmassnahmen seitens des IKRK notwendig) und die verstärkte Durchführung von Schutzaufgaben für Kriegsgefangene (erfolgreiche Verhandlungen mit einem oder mehreren Akteuren, die Teile des Krisengebietes kontrollieren). Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Resultate aus dem zweiten empirischen Teil, so lässt uns die starke Abnahme der Ausgaben im Medizinbereich stutzen, denn gemäss dem im empirischen Teil formulierten Zusammenhang sollte sich eine Abnahme der medizinischen Ausgaben negativ auf die Wahrnehmung der Kombattanten auswirken. Das IKRK würde demnach bei einer solchen Konstellation grosse Einbussen bezüglich ihrer Fremdwahrnehmung als neutrale und unabhängige Hilfsorganisation hinnehmen müssen. Doch geht man von der in diesem Teil der Untersuchung vorhandenen historischen Perspektive aus, ergeben sich dafür schlüssige Erklärungsansätze. Falls nämlich tatsächlich ein Akteur an der Macht ist, der das IKRK als Institution akzeptiert (die bereits erwähnten Ausgaben im Schutzbereich sprechen dafür), spricht dies für die These, dass durch den bereits geleisteten Hilfseinsatz während des bewaffneten Konfliktes eine breitere Akzeptanz erreicht wird, die in ruhigen Zeiten ohne bewaffnete Auseinandersetzungen nachwirkt und trotz dem Rückgang der Medizinalausgaben im optimalen Fall bessere Arbeitsbedingungen für das IKRK zur Folge hat. Wenn diese Vermutung stimmt, dann wirken sich die hohen Ausgaben im Medizinalbereich gewissermassen nachhaltig positiv auf die Meinung der beteiligten Akteure hinsichtlich des IKRK aus. So wird durch die gewonnene Akzeptanz während Krisenzeiten die Verhandlungsbasis geschaffen, um während friedlicher Zeiten Gefangene besuchen zu dürfen, sich möglichst gefahrlos im Gebiet zu bewegen und weiteren Aufgaben (Aufklärung, Nothilfe, medizinische Projekte etc.) nachzugehen. In diesem Zusammenhang wird ersichtlich, warum die schnelle unabhängige, unparteiische und neutrale Hilfe in akuten, bewaffneten Auseinandersetzungen für das Funktionieren des IKRK von grösster Wichtigkeit ist und wie sich das IKRK dadurch von anderen Organisationen unterscheidet. Die Grundsätze der Unabhängigkeit, der Unparteilichkeit und der Neutralität dürfen daher nicht nur als eine veraltete Idee von "Gutmenschen" beschrieben werden, sondern sie sind auch Mittel zum Zweck, um sich nicht durch Parteinahme in einem frühen Stadium eines Konfliktes die zukünftig notwendigen Einsätze in diversen Bereichen unter verhältnismässig sicheren Arbeitsbedingungen zu verunmöglichen. Demnach ist gerade die angestrebte Neutralität ein aus unserer Sicht äusserst sinnvolles Mittel, um langfristige Hilfsarbeit in Krisengebieten zu ermöglichen, zumal man bedenkt, dass es sich bei den meisten Krisen (auch in Afghanistan) nicht um kurzfristige Krisensituationen handelt, die auf diplomatischem Weg einfach gelöst werden können. Oft liegt deren Ursprung Jahrzehnte oder Jahrhunderte zurück und die Eskalation ist eine Folge der historischen Umstände. Der unabhängige und neutrale Hilfseinsatz in akuten Krisen ist folglich von grösster Wichtigkeit, um die Fremdwahrnehmung des IKRK seitens der verschiedenen Kriegsakteure bereits früh positiv beeinflussen zu können, zumal nicht davon ausgegangen werden kann, dass das IKRK überall genügend bekannt ist und seine Arbeit so wahrgenommen wird, wie es von der Organisation selber beabsichtigt wird. Dieser Argumentationslinie folgend ist die oft umstrittene politische Positionierung des IKRK legitim und entspricht durchaus den gegenwärtigen Anforderungen in Krisengebieten, mit denen sich die Organisation konfrontiert sieht. Die Resultate der Untersuchung unterstützen die Vermutung, dass es sich für das IKRK langfristig auszahlt, wenn sich die Organisation weiterhin klar von anderen Hilfsorganisationen und dem "New Humanitarism" abgrenzt, sowie von "humanitären" Militärinterventionen" Abstand nimmt. Nur so kann verhindert werden, dass die Sicherheitslage des IKRK nicht zusätzlich unnötig belastet wird und die Organisation langfristig ihre von der Völkergemeinschaft übertragenen Aufgaben nachhaltig erfüllen kann.