Im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit konnten wir nachweisen, dass sich Änderungen der Ausgaben, bzw. verschiedene Gewichtungen von gewissen Ausgabenkategorien seitens des IKRK besonders ausgeprägt auf die Meinung von Kombattanten bezüglich möglicher Angriffe auf helfende Zivilisten auswirken. Dieser statistische Zusammenhang wird in der Arbeit interpretiert und diskutiert.
Doch vergegenwärtigen wir uns doch noch einmal, was diese Aussagen bedeuten: Die statistischen Zusammenhänge sagen aus, dass in jenen Ländern, in welchen im Verlaufe des Jahres 1998 anteilmässig am Gesamtbudget viel Geld für Aufklärung, medizinische Projekte und Schutzaufgaben und wenig für operationellen Support investiert wurde, tendenziell im folgenden Jahr eine geringere Zustimmung zu Angriffen auf helfende Zivilisten bestand.
Die in Kapitel 6.2 formulierte Hypothese wird durch die Ergebnisse der Regressionen gestützt. Demnach besteht ein Zusammenhang zwischen den Bemühungen des IKRK um eine positive Wahrnehmung seitens der Kriegsakteure und den Sicherheitsbedingungen für ihre tägliche Arbeit. Doch das Fehlen der zeitlichen Dimension stellt eine Schwäche dieser Querschnittsanalyse dar. Auf die Frage, wie sich die Unterschiede der Verteilung der Ausgabenkategorien in den verschiedenen Krisengebieten entwickelten und wie die Grundstimmung der Bevölkerung in einer Region mit historischen Ereignissen verknüpft ist, gibt diese Versuchsanordnung keine Antwort. Denn alle Ausgaben als Kupplungsprodukte vorherrschender Sicherheitssituationen interpretiert werden. Herrscht etwa ein akuter, mit militärischen Mitteln geführter Konflikt, ergeben sich gewisse Einschränkungen für das IKRK, die bei einem schwelenden Konflikt oder einer Zeit des Waffenstillstandes nicht vorhanden sind.
Diese Tatsache spricht jedoch nicht gegen die gewonnenen Erkenntnisse. Denn mit Blick auf die in Kapitel 4 formulierte Arbeitsthese, dass das IKRK aufgrund der stark veränderten Kriegsformen und -realitäten der letzten Jahrzehnte an Einfluss verloren hat, bzw. überhaupt keinen Einfluss mehr geltend machen kann, zeigen die besprochenen statistischen Zusammenhänge klar gegenteilige Tendenz. Die Arbeitsthese kann aufgrund der Ergebnisse im Rahmen dieser Arbeit falsifiziert werden.
In einem zweiten empirischen Teil untersuchten wir als Fallbeispiel den Afghanistankonflikt im Zeitraum von 1993-1998, um der erwähnten fehlenden zeitlichen Dimension -wenn auch nur in einem beschränkten Rahmen- Beachtung zu schenken. Anhand des Fallbeispiels Afghanistan überprüften wir, ob und wie weit sich die Ergebnisse aus der Querschnittanalyse begründen lassen, bzw. wie sich die Ausgaben mit dem Verlauf des Konfliktes veränderten und ob die Ausgabenkategorien tatsächliche die Situation und die Sicherheitslage für das IKRK vor Ort abbilden können.
In den Jahren 1993 bis 1997 fand hinsichtlich der Sicherheitslage in Afghanistan und den davon abhängigen Arbeitsbedingungen des IKRK eine kontinuierliche Beruhigung der Situation, bzw. eine Verbesserung der Akzeptanz und der Wahrnehmung des IKRK statt. Diese verbesserte Sicherheitslage für das IKRK muss nicht einhergehen mit einer generellen Beruhigung des Konfliktes, sondern kann sich aufgrund eines Zusammenspiels verschiedener Faktoren ergeben, die sich schlussendlich positiv für das IKRK auswirken. Die Beruhigung äussert sich durch den verhältnismässig verringerten Aufwand im medizinischen Bereich (weniger Kampfhandlungen, weniger verletzte Kombattanten), geringere Ausgaben im operationellen Bereich (weniger Schutzmassnahmen seitens des IKRK notwendig) und die verstärkte Durchführung von Schutzaufgaben für Kriegsgefangene (erfolgreiche Verhandlungen mit einem oder mehreren Akteuren, die Teile des Krisengebietes kontrollieren).
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Resultate aus dem zweiten empirischen Teil, so lässt uns die starke Abnahme der Ausgaben im Medizinbereich stutzen, denn gemäss dem im empirischen Teil formulierten Zusammenhang sollte sich eine Abnahme der medizinischen Ausgaben negativ auf die Wahrnehmung der Kombattanten auswirken. Das IKRK würde demnach bei einer solchen Konstellation grosse Einbussen bezüglich ihrer Fremdwahrnehmung als neutrale und unabhängige Hilfsorganisation hinnehmen müssen. Doch geht man von der in diesem Teil der Untersuchung vorhandenen historischen Perspektive aus, ergeben sich dafür schlüssige Erklärungsansätze. Falls nämlich tatsächlich ein Akteur an der Macht ist, der das IKRK als Institution akzeptiert (die bereits erwähnten Ausgaben im Schutzbereich sprechen dafür), spricht dies für die These, dass durch den bereits geleisteten Hilfseinsatz während des bewaffneten Konfliktes eine breitere Akzeptanz erreicht wird, die in ruhigen Zeiten ohne bewaffnete Auseinandersetzungen nachwirkt und trotz dem Rückgang der Medizinalausgaben im optimalen Fall bessere Arbeitsbedingungen für das IKRK zur Folge hat. Wenn diese Vermutung stimmt, dann wirken sich die hohen Ausgaben im Medizinalbereich gewissermassen nachhaltig positiv auf die Meinung der beteiligten Akteure hinsichtlich des IKRK aus. So wird durch die gewonnene Akzeptanz während Krisenzeiten die Verhandlungsbasis geschaffen, um während friedlicher Zeiten Gefangene besuchen zu dürfen, sich möglichst gefahrlos im Gebiet zu bewegen und weiteren Aufgaben (Aufklärung, Nothilfe, medizinische Projekte etc.) nachzugehen.
In diesem Zusammenhang wird ersichtlich, warum die schnelle unabhängige, unparteiische und neutrale Hilfe in akuten, bewaffneten Auseinandersetzungen für das Funktionieren des IKRK von grösster Wichtigkeit ist und wie sich das IKRK dadurch von anderen Organisationen unterscheidet. Die Grundsätze der Unabhängigkeit, der Unparteilichkeit und der Neutralität dürfen daher nicht nur als eine veraltete Idee von "Gutmenschen" beschrieben werden, sondern sie sind auch Mittel zum Zweck, um sich nicht durch Parteinahme in einem frühen Stadium eines Konfliktes die zukünftig notwendigen Einsätze in diversen Bereichen unter verhältnismässig sicheren Arbeitsbedingungen zu verunmöglichen. Demnach ist gerade die angestrebte Neutralität ein aus unserer Sicht äusserst sinnvolles Mittel, um langfristige Hilfsarbeit in Krisengebieten zu ermöglichen, zumal man bedenkt, dass es sich bei den meisten Krisen (auch in Afghanistan) nicht um kurzfristige Krisensituationen handelt, die auf diplomatischem Weg einfach gelöst werden können. Oft liegt deren Ursprung Jahrzehnte oder Jahrhunderte zurück und die Eskalation ist eine Folge der historischen Umstände.
Der unabhängige und neutrale Hilfseinsatz in akuten Krisen ist folglich von grösster Wichtigkeit, um die Fremdwahrnehmung des IKRK seitens der verschiedenen Kriegsakteure bereits früh positiv beeinflussen zu können, zumal nicht davon ausgegangen werden kann, dass das IKRK überall genügend bekannt ist und seine Arbeit so wahrgenommen wird, wie es von der Organisation selber beabsichtigt wird. Dieser Argumentationslinie folgend ist die oft umstrittene politische Positionierung des IKRK legitim und entspricht durchaus den gegenwärtigen Anforderungen in Krisengebieten, mit denen sich die Organisation konfrontiert sieht. Die Resultate der Untersuchung unterstützen die Vermutung, dass es sich für das IKRK langfristig auszahlt, wenn sich die Organisation weiterhin klar von anderen Hilfsorganisationen und dem "New Humanitarism" abgrenzt, sowie von "humanitären" Militärinterventionen" Abstand nimmt. Nur so kann verhindert werden, dass die Sicherheitslage des IKRK nicht zusätzlich unnötig belastet wird und die Organisation langfristig ihre von der Völkergemeinschaft übertragenen Aufgaben nachhaltig erfüllen kann.