Zehn Jahre sind es her, seit die Auseinandersetzungen um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg mit emotional geführten Debatten um "Nazigold" und "nachrichtenlose Vermögen" ihren Höhepunkt erreichten. Auch in andern Ländern wurden der Umgang mit der historischen Vergangenheit und Fragen der Restitution kontrovers diskutiert. Im Kontext eines erinnerungskulturellen Wandels auf transnationaler Ebene, in der Fragen von Schuld und Verantwortung im Zusammenhang mit dem Holocaust nicht nur Täter und Opfer, sondern zunehmend auch die "Zuschauer" tangierten, war die Schweiz mit Facetten ihrer Vergangenheit und Restitutionsforderungen konfrontiert, die das noch immer dominierende Geschichtsbild einer humanitären Widerstandsnation in Frage stellten. Umso auffallender war die Indifferenz, mit der den Ergebnissen der eigens eingesetzten "Unabhängigen Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg (UEK)" fünf Jahre später in weiten Teilen der Öffentlichkeit begegnet wurde. Welche konkreten Spuren die Auseinandersetzungen der 1990er Jahre im Geschichtsbewusstsein der schweizerischen Bevölkerung hinterlassen haben, darüber weiss man bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt wenig. Unser Ziel ist es deshalb, Dynamiken von Erinnern und Vergessen bei Akteursgruppen zu untersuchen, die im Gegensatz zum Erinnerungsgeschehen im Bereich der Leitmedien, der Aktivdienstgeneration und der Historiographie bisher kaum ins Blickfeld der Forschung gerückt sind. Wir möchten mittels Familieninterviews und Gruppendiskussionen untersuchen, wie Schweizerinnen und Schweizer unterschiedlicher Altersgruppen, sowie verschiedener sozialer und regionaler Herkunft heute die Zeit des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus vergegenwärtigen. Uns interessiert, welche Themen wie verhandelt, erinnert, verdrängt und vergessen werden, inwiefern auf Diskussionen in Öffentlichkeit und Geschichtswissenschaft Bezug genommen wird und welche Verarbeitungs-, Konstruktions- und Sinnbildungsprozesse dabei wirksam werden. In kritischer Auseinandersetzung mit gegenwärtig stattfindenden theoretischen Diskussionen um Erinnerung und Gedächtnis, wie sie derzeit insbesondere auch in den Kulturwissenschaften geführt werden, möchten wir mit unserem Projekt einen Beitrag leisten zur Erkundung der Pluralität der in der Schweiz existierenden Erinnerungskulturen. Das Projekt ist Teil des internationalen Forschungszusammenhangs "Vergleichende Tradierungsforschung"; einem Kooperationsprojekt verschiedener europäischer Universitäten und Forschungsinstitute, das untersucht, wie Vorstellungen vom Zweiten Weltkrieg und vom Nationalsozialismus in verschiedenen sozialen Gruppen und Erinnerungsgemeinschaften tradiert werden. Die Erforschung kollektiver Deutungs- und Sinnbildungsprozesse im Kontext einer sich seit dem Ende des Kalten Krieges wandelnden gesellschaftlichen Konstellation sind dabei ebenso Gegenstand der Untersuchung wie die Konstitution von Fremd- und Selbstzuschreibungen im Prozess kommunikativer Vergegenwärtigung von Vergangenheit. Das Projekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds und vom Marie-Heim-Vögtlin-Programm unterstützt.