Der Sex tendiert dazu, «traurig» zu sein, weil er kaum je ist, was der Diskurs über die «Sexualität» verspricht. Um diese, heute möglicherweise verschwindende Welt, in der die «Sexualität» die Gemüter noch besonders zu erregen vermochte, geht es in der vorliegenden Studie. Sie erhebt allerdings nicht den Anspruch, die elementare Strukturen des Schreibens über «Sexualität» in den achtziger und frühen neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu analysieren. Es handelt sich auch nicht um den Versuch einer archäologischen (Re-) Konstruktion, des Zusammenfügens von Überresten oder Monumenten jener Zeit. Stattdessen nehme ich Foucaults Forderung nach einer «immanenten Beschreibung des Monuments» auf, und zwar eines einzelnen Monuments – des Archivs der Briefe an die populärmediale Ratgeberin «Liebe Marta».
Was heißt das? Im Zusammenhang mit der Debatte über die Diskurstheorie und -analyse ist die Forderung nicht neu, die «Materialität von Diskursen», also insbesondere die medialen Bedingungen, unter denen Aussagen zustande kommen, zu berücksichtigen. Sie ist mittlerweile in zahlreichen historischen und sozialwissenschaftlichen Studien aufgenommen und auf mehr oder weniger gelungene Weise umgesetzt worden. Letztlich allerdings geht es in diesen Forschungsarbeiten immer um bestimmte Gegenstandsbereiche, welche die Gliederung der Erzählung und die Ergebnisse bestimmen. In meiner Studie hingegen stehen nicht die in den Quellen vorkommenden Themen im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern das Archiv als Ganzes. Es stellt einen Überrest dar, ein physisch fassbares Monument, das sich «immanent» beschreiben lässt. Es geht in dieser Arbeit folglich nicht in erster Linie um historische Veränderungen innerhalb eines Gegenstandsbereichs, etwa der Diskurse über die «Sexualität» oder über die «Liebe», sondern um den Ort, an dem das Sprechen und Schreiben über diesen Bereich – und damit auch dieser selbst – (mit) konstituiert wird. Mit anderen Worten: Es ist zwar so, dass die «Sexualität» ihr Glücksversprechen letztlich nicht erfüllen zu können droht. Insofern ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie «traurig» ist. Ein Brief an die Ratgeberin hingegen verlangt, dass die darin behandelten Gegenstände als «traurige» beschrieben werden müssen.
Die Art und Weise, wie die konkreten Äußerungen zu Stande kommen, hängt also in hohem Maße vom Medium und von den Strukturen der Beratungskommunikation ab. Im Brief an eine Sex-Ratgeberin verschränken sich die Themen, das Medium des (Leser-) Briefes und die kommunikative Form der Beratung. Die forschungsleitende Frage lautet deshalb: Worüber und wie genau schrieben die Leserinnen und Leser eines populäres Mediums aus dem Südwesten des deutschsprachigen Raums in den achtziger und frühen neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, nachdem sie durch dessen Ratgeberkolumne aufgefordert worden waren, über ihre Probleme in «Liebe, Sex und Partnerschaft» zu berichten?
Das Ziel besteht erstens darin, einen Beitrag zur Diskussion über die Rolle der Medialität/Materialität für die Untersuchung von Aussageregeln zu leisten. Diese methodologische Ebene wird zweitens durch einen Beitrag zur Geschichte der Wahrnehmung und Konstruktion von «Körpern» und «Beziehungen» ergänzt. Drittens lege ich dar, wie das (autobiographischen) Schreiben und die Beratungssituation selbst von Seiten der Schreibenden thematisiert wurden. Es geht also darum zu untersuchen, wie die medialen Bedingungen des Aussagens von den Aussagenden selbst diskutiert wurden. Viertens ermöglicht es das Archiv der Briefe, nicht nur die durch die Medien verbreiteten Sinnangebote in den Blick zu nehmen und dabei vorauszusetzen, dass sie auch die Sinngebungsprozesse auf der Seite der Rezipientinnen und Rezipienten dominieren. Stattdessen kann hier am Einzelfall untersucht werden, wie die einzelnen Schreibenden ihre «eigene» Lektüre der medialen Texte und ihre Rezeption anderer Informationen zu einem Text zusammenfügten und wie sie sich selbst als in diesem Prozess beteiligte beschrieben.