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Das Kulturverhalten der Bevölkerung: Vielfalt, Kontraste und Gemeinsamkeiten

Ref. 2956

Description générale

Période concernée

1987 bis 1989

Région géographique

-

Informations géographiques additionnelles

Schweiz und Sprachregionen

Résumé

Kultur ist im Laufe der 80er Jahre immer mehr in die Rhetorik der Politik eingedrungen. Geht diese neue Intimität zwischen Kultur und Politik auf deren Verlegenheit angesichts der ungelösten Probleme zurück? – kann man sich mit Habermas fragen. Jedenfalls ist das Wort Kultur heute so verbreitet, dass spätere Generationen in ihm ein Etikett erkennen werden, mit dem wir Zeitgenossen die 80er und 90er Jahre zu deuten oder wohl auch zu beschwören versucht haben. Kultur ist ein grosses Wort geworden. Auch in der Sozialwissenschaft ist der Begriff Kultur mehr und mehr durchgedrungen, und er scheint in der Soziologie Marx auf den Kopf zu stellen. Strukturelle Probleme treten hinter der Kulturfrage zurück. Auf strukturelle Not soll ein kultureller Code antworten. Schliesslich ist Kultur in die Sprache des Marketing vorgerückt. Kultur wird zum Symbol für die kommerzielle Utopie, die heute bereits als Siegerin der Weltgeschichte gefeiert wird (Fukuyama). Sie verspricht, durch das Spiel der freien Märkte, eine neue Welle der Zivilisation einzuleiten und zugleich Lösungen für die grossen Probleme der Gegenwart zu bringen. Kultur ist ein Zeichen, das als Multiplikator wirkt; unzählige und immer wieder neue Kombinationen mit anderen Begriffen sind möglich, wie die folgenden Beispiele nur andeuten. - Kultur ist ein schmückendes Beiwort geworden. Das zuweilen auch heute noch rauhe Betriebsklima heisst Betriebskultur. Auf dem Dorf wird der Vereinsanlass zum Kulturanlass. Die Kulturseite in Printmedien lässt die tagespolitische Vorseite vergessen. Aus Vergnügungsreisen werden Kulturreisen. Unter Kultursponsoring weisen die Banken neue Rubriken aus. - Kultur ist zum beschwörenden Beiwort geworden. In Zeitungen erscheint der Begriff der Sicherheitskultur in Kernkraftwerken; Risiken und Unsicherheiten werden kulturell gebannt. Die Fahrkultur im Peugeot lässt die Autofahrt schnell, sicher und "intelligent" erscheinen. Arbeitskultur überstrahlt den Arbeitsalltag und -stress. - Kultur wird zum Mantelwort. Harte Real- und Interessenpolitik verschwindet hinter dem weichen Begriff politische Kultur. Vor je schwierigeren Problemen die Politik steht, desto häufiger wird das Wort politische Kultur in der Rhetorik gebraucht. - Kultur ist mahnendes Beiwort für das Bestehende. Das Wort kulturell vor Begriffen wie Vielfalt, Eigenart, Erbe oder Wert wirkt wie ein Mahnfinger, sie nicht anzutasten. Das Beiwort kulturell ist eine säkulare Form von heilig. - Kultur ist Signalwort für das Alternative. Fabriken, Reithallen oder dem Abbruch geweihte Häuser und Gebäude aus der industriellen Zeit werden als Werkstätten und Experimentierräume für neue Kultur, neuorientierte Lebensweisen beansprucht. Kultur heisst Opposition zum Bestehenden, Umdenken und Umbruch. Wir könnten die Anarchie von Bedeutungen im Wortgebrauch von Kultur noch weiter belegen. Hier steht die Frage im Vordergrund: Ist Kultur im Laufe der 80er Jahre zwar zum grossen, aber leider auch leeren Wort geworden? Kultur ist in der Wissenschaft unzählige Male begrifflich zu definieren versucht worden. Die Anarchie der Bedeutungen dieses Begriffs, wie sie in den Beispielen zum Ausdruck kommt, wurde bislang durch keine akademische Übung bewältigt. Wir versteigen uns daher im folgenden nicht in kultursoziologische Begriffsarbeit, sondern "schauen dem Volk aufs Maul"; denn die Bevölkerung fehlte bisher bei der Mitarbeit an dem, was Kultur heissen könnte und heissen soll.

Résultats

Wir schliessen mit einem Fazit, das man als Plädoyer für die Zukunft des Begriffs Kultur verstehen kann. Das Wort sollte weniger gebraucht werden. An Stellen, wo es unvermeidlich wird, ist Kultur durchsichtig zu machen. Was bedeutet Kultur für die Menschen, die Bevölkerung und die Gesellschaft? Empirische Untersuchungen können diese Transparenz leisten. Sie liefern Ausgangspunkte für die Weiterarbeit. Kultur erweist sich häufig als Deckname für Realitäten, die auf soziale Strukturen, Notwendigkeiten und Zwänge hinweisen. So verbannt das Gros der Bevölkerung die industrielle und technische Arbeitswelt aus ihrem persönlichen Verständnis von Kultur, Identität in der Berufsarbeit zu erfahren, bleibt ein Privileg der höheren Schichten und der Männer. Kultur im engen Sinn – Veranstaltungen und Angebote – wird für Mehrheiten der Bevölkerung von wichtigeren Bedürfnissen des Alltags an den Rand gedrängt. Das Erleben eigener Identität – von Eigenzeit – liegt in passiven Formen der Erholung und nicht im Kulturerlebnis. Die Bevölkerung sieht Kultur denn auch nicht spannungsfrei, sie wird als ein Stück etablierter Entscheidungsmacht gegenüber ideellen Initiativen erkannt. Betrachtet man die eher düsteren Zukunftsbilder der Bevölkerung, wird sehr wohl verständlich, was mit dem Modewort Kultur alles abzudecken ist. Soll Kultur kein leeres Wort bleiben, muss empirisch durchsichtig gemacht werden, welche gesellschaftlichen Probleme, Ängste und Ungleichheiten hinter ihm versteckt werden.