Evaluation eines Modells für ethische Urteilsbildung in der neonatologischen Intensivmedizin: Interaktionsanalysen der Entscheidungsfindung in ethischen Gesprächsrunden

Ref. 7512

General description

Period

1998 - 2000

Geographical Area

-

Additional Geographical Information​

Stadt Zürich, Schweiz

Abstract

Das an der Klinik für Neonatologie entwickelte Modell für Ethische Urteilsbildung wurde einer formativ ausgerichteten Fremdevaluation unterzogen. Es wurden die Konsequenzen des Entscheidungsmodells zum einen betreffend des Prozesses der ethischen Urteilsbildung selber und zum anderen bezüglich der Pflegenden und Ärzte untersucht. Ziel war es, erstens die Entscheidungsfindung in den Gesprächsrunden prozessual zu beschreiben und mit der geplanten Form zu vergleichen und zweitens Anhaltspunkte zur Modifikation und Verbesserung der laufenden Gesprächsrunden zu liefern. Die folgenden Fragestellungen wurden beantwortet: Entspricht die Umsetzung des Entscheidungsmodells dem postulierten Modell? Zweitens: Wie beurteilen die teilnehmenden Personen das Entscheidungsmodell? Drittens: Wie ist die Umsetzung des Entscheidungsmodells im Laufe der Zeit erfolgt? Bei der Evaluationsuntersuchung handelt es sich um eine One-Shot-Studie, weil nur eine einzige Population ohne Vortest untersucht wird. Die Realisierung der Gesprächsrunde wurde anhand von Interaktionsanalysen und Ge-sprächsprotokollen beschrieben. Mittels Videoaufnahmen der ethischen Gesprächsrunden wurden Interaktionsanalysen vorgenommen, welche auf direkter Verhaltensbeobachtung basieren. Das Gesprächsprotokoll, dass jeder Gesprächsleiter im Anschluss an eine Gesprächsrunde bearbeitete, ging in seinem Aufbau direkt aus dem Entscheidungsmodell hervor. Der Fragebogen F I zur allgemeinen Beurteilung der Gesprächsrunden und der Fragebogen F II zur spezifischen Beurteilung der einzelnen Gesprächsrunden erfassten die Korrelate des Entscheidungsmodells und wurden eigens für die Evaluationsuntersuchung entwickelt. Fragebogen F I erhob die persönliche Einstellung zu den Gesprächsrunden im allgemeinen und die Veränderungen der Beziehungen aufgrund der Gesprächsrunden. Zu beiden Konstrukten (Einstellung und Beziehungen) wurden sowohl geschlossene als auch offene Fragen an die Untersuchungspersonen gestellt. Mit dem Fragebogen F II wurde die Zufriedenheit, die Einstellung zur Gesprächsrunde und die Bewertung der Entscheidung im Anschluss an die einzelnen Gesprächsrunden durch die Gesprächsteilnehmer mittels Selbsteinschätzung erfasst. A framework for ethical decision making was developed at the Clinic of Neonatology at the University Hospital in Zurich, which attempts to integrate the best interests of the infants and their parents together with the ones of the nurses and doctors. The framework has been developed to structure the ethical decision making process in neonatal intensive care. The purpose of the research was to evaluate the consequences of the framework for the decision making process itself and for the nurses and doctors involved. The goals were first, to describe the decision making process in ethical meeting and to compare it with the rules of the model, and second, to look for hints to optimize the meetings. Research questions were: Does the decision making process reflect the model? How do the participants of the meetings evaluate the model of decision making? Are there any changes in the implementation of the model over time? The evaluation design was a One-Shot-Studie (only one population). Methods to describe the implementation of the models were direct observation i.e. Interaction Analysis and protocols of the sessions. Based on video tapes, the ethical meetings were scored using the SYMLOG Interaction scoring, in combination with an adapted method to score content (Images) After each meeting, the leading person used a standardized rating sheet, that reflected the structure of the model. Questionnaire F I was used to measure the more generalized attitudes concerning the model, while Questionnaire F II was designed to measure the ratings of each session observed. Questionnaire F I covered the personal attitude to the model and changes of the social relations during the meetings. Both constructs (attitudes and relations) were measured using open and closed items. Questionnaire F II was a ratings scale used immediately after the session, measuring satisfaction of the participants, aspects of the meeting, and of the final decision.

Results

Die Auswertungen der Gesprächsprotokolle ergab, dass selten eine Pflegeperson alleine eine Gesprächsrunde einberief (ohne Arzt) und, dass knapp die Hälfte der Gespräche von ein und derselben Person geleitet wurde. Die insgesamt positive Beurteilung der Gesprächsrunden ist hauptsächlich auf die interdisziplinäre Zusammensetzung der Kreise und auf die Partizipation aller Beteiligten am Entscheidungsprozess zurückzuführen. Die Eltern und das zukünftige Umfeld des Kindes müssten gemäss den Teilnehmern stärker in die Entscheidungsfindung einfliessen bzw. besser beurteilt werden können. Die Kritikpunkte an der Umsetzung des Entscheidungsmodells änderten sich im Laufe der Zeit. Während zu Beginn der Einführung der Gesprächsrunden die Terminierung der Gesprächsrunden wie auch die Auswahl der Kriterien kritisiert wurde, rückten zu späteren Zeitpunkten Kommunikationsaspekte in den Vordergrund, an denen sich immer mehr Teilnehmer störten. Zur Erklärung der beobachteten Unterschiede in den Auswirkungen der Gesprächsrunden im Laufe der Zeit kommt sowohl die Rolle im Gespräch als auch die Ausbildung in Betracht. Die Interaktionsprotokolle zeigten eine gute Übereinstimmung zwischen dem Modell und dem tatsächlichen Prozess der Entscheidungsfindung. So wurden die Regeln zur medizinischen Situation und zum Lebenskontext des Kindes, zum ethischen Dilemma und zu den Handlungsalternativen im Detail befolgt. Die Verteilung der Wertäusserungen ergab Unterschiede zwischen den Gesprächsrunden (GR): die Steuerung der GR nahmen besonders in GR2 und GR3 deutlich mehr Raum ein als in GR1 und GR4. Dafür wurden in letzteren beiden GRn mehr therapiebezogene Beiträge beobachtet. Die formalen Regeln bezüglich der Zusammensetzung des Innen- und Aussenkreises, der Entscheidungsbefugnis und der Gesprächsleitung wurden eingehalten. Von den Berufsrollen beteiligten sich die ÄrztInnen mit 57-80% am meisten am Interaktionsprozess, Pflege und Andere deutlich weniger. LeiterInnen hatten immer den grössten Anteil an der gesamten Interaktion (27%-41%), auch wenn sie nicht ärztliche Funktion inne hatten (GR2). Ein Partizipationsindex war in drei der vier GR ähnlich, zeigte also keine stetige Veränderung über die Zeit. Die Leiter hatten einen grossen Anteil an den inhaltlichen Beiträgen, lediglich in GR4 senkte der Leiter diesen Anteil deutlich. Dies wird als modellkonforme Veränderung interpretiert. Die Anteile der Äusserungen von Innen- und Aussenkreis zeigten, dass die Regeln hinsichtlich Reihenfolge, Mitsprachebefugnis und Entscheidung in allen vier Gesprächsrunden befolgt wurden. Inhaltliche Beiträge stammten vor allem von Mitgliedern des Innenkreises. Analysen der empfangenen Akte ergaben modellkonforme Verteilungen. Neue Handlungsalternativen stammten zumeist und zuerst aus dem Innenkreis. Mit Ausnahme der GR2 steuerten auch die Leiter neue Vorschläge zum weiteren therapeutischen Vorgehen bei. Kommentare des Aussenkreises über den Entscheidungsprozess des Innenkreises waren selten und betrafen nur teilweise Bewertungen und Vorschläge zur Gestaltung des Gruppenprozesses und zu Handlungsalternativen. Ein Profilvergleich der 4 GR hinsichtlich der abhängigen Variablen und mit den retrospektiven Beurteilungen zeigte je Sitzung spezifische Merkmale. Besonders GR3 hob sich hinsichtlich Interaktionsstruktur und Beurteilungen von den anderen GR ab, ein Hinweis auf einen besonders schwierigen Entscheidungsprozess. Im Vergleich zu anderen Evaluationsstudien sind die Kriterien dieser Studie aussergewöhnlich verhaltensnah. Die detaillierten Interaktionsanalysen zeigen eine sehr gute Übereinstimmung zwischen Modell und realer Entscheidungsfindung. In Kombination mit den positiven Beurteilungen der TeilnehmerInnen kann daher kann das Vorgehensmodell für ethische Urteilsbildung für das gegebene Setting, aber auch für andere Anwendungsfelder, z.B. der Intensivmedizin generell ,der Geriatrie etc. empfohlen werden.