Heroindampfscheibenwirbel. Eine ethnologische Studie des Folienrauchens in Zürich in den 90er Jahren

Ref. 5166

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Abstract

In der Schweiz dürften inzwischen 4 von 10 sozial auffällig Heroin Konsumierenden die Droge rauchen und nicht injizieren. Nach einer kurzen Periode im Winterhalbjahr 92/93, als Folien Rauchen als "fashonable" galt, wurde es auch von potentiell gefährdeten Jugendlichen weitgehend geächtet. Es breitete sich also kaum, wie anfänglich befürchtet, in die allgemeine Jugendkultur aus. Die noch nicht abgeschlossene Studie untersucht mit einem ethnopsychoanalytischen Ansatz vor allem widersprüchliche und unbewusste Bedeutungen, die Jugendliche zum Folien Rauchen motivieren. Es wurden dazu von 94-96 rund 50 Jugendliche möglichst mehrmals mit Tonbandinterviews befragt. Speziell wird der angstlustvolle (Balint) Umgang mit den Risiken der Sucht und der sozialen Ächtung untersucht. Bis zu Beginn der 90er Jahre wurde Heroin in der Schweiz zum grössten Teil intravenös injiziert, allenfalls noch geschnupft. Seither hat sich das sog. Folien Rauchen stark verbreitet: Pulverförmiges Heroin wird auf einer Aluminiumfolie durch Erhitzen verflüssigt, wobei es sogleich in die Gasform übergeht und als aufsteigender Dampf inhaliert wird. Vor allem veränderte Bedingungen des schweizerischen Heroinschwarzmarktes machten diesen Wandel des Konsums möglich. Hatte ein Gramm "Gassenheroin" von höchstens 10%-20% Reinheit zwischen 1980 und 1990 rund 500 Franken gekostet, fiel der Preis anfangs der 90er Jahre in kurzer Zeit auf etwa 100 Franken. Inzwischen hat sich das Gramm Heroin nochmals bis gegen Fr. 50.- verbilligt, dies bei einer gleichzeitig stark gestiegenen Reinheit von inzwischen durchschnittlich 30%-40%. Auch eine veränderte chemische Form des angebotenen Heroins förderte den Übergang zum Rauchen: Bis in die 80er Jahre hinein dürfte auf dem gesamten europäischen Schwarzmarkt ausschliesslich wasserlösliches Heroin-Hydrochlorid aus Südostasien angeboten worden sein, das sich zum Injizieren, nicht aber zum Rauchen eignet. Seit den späten 80er Jahren beherrscht nun eine einheitliche Heroin-Base aus Afghanistan/Pakistan den europäischen Schwarzmarkt. Diese eignet sich ohne weitere Aufbereitung zum Rauchen, zum Injizieren muss sie mit Ascorbinsäure versetzt werden. Zudem enthält sie viele produktionsbedingte Verunreinigungen, die das Rauchen weniger stören als das Injizieren. Im Winterhalbjahr 92/93 schien Folien Rauchen zu einer Modewelle zu werden, die neue Konsumentenschichten zu erfassen drohte. Es wurde eine eigentliche Epidemie des Heroinkonsums in dieser für die Schweiz neuen Form befürchtet und präventiv entsprechend gezielt reagiert. Als besonders gefährdet wurden "ganz junge und gut integrierte Jugendliche" betrachtet, zudem Jugendliche der zweiten Ausländergeneration. Die Befürchtungen haben sich aber nicht bewahrheitet. Folien Rauchen galt höchstens bei seinem ersten Aufkommen in der Schweiz in bestimmten Jugendgruppen als "fashonable". Inzwischen wird es von den allermeisten Jugendlichen als ein extrem stigmatisierendes Verhalten sanktioniert. Entsprechend verstecken die meisten Folien Rauchenden ihren Konsum und schämen sich dafür. Nach kurzer Zeit verschwand das Thema auch wieder aus den Medien, wo Heroinkonsum inzwischen wieder "fixen" bedeutet. Tatsächlich hat sich aber während der letzten fünf Jahre ein bedeutender Wandel vollzogen. Rauchten 1991 erst 5% aller in der Stadt Zürich (auffällig) Heroin Konsumierenden die Droge, dürften es – mit immer noch steigender Tendenz – inzwischen 40% sein, welche Heroin nicht injizieren sondern rauchen. Diesen Schluss lassen die Befragungen der beiden Zürcher "Rückführungszentren" Hegibach und Kaserne zu, die das Institut für Suchtforschung (ISF) für die vorliegende Studie quantitativ ausgewertet hat. Da sich der (sozial auffällige) Heroinkonsum seit 1990 insgesamt stabilisiert haben dürfte, ist also eine neue Form, nicht aber eine Ausweitung des Konsums von Heroin eingetreten.

Results

Unsere fortgeschrittenen Konsumgesellschaften erlauben den Umgang mit psychoaktiven Substanzen nur dann, wenn damit der Normalzustand eines durchschnittlichen Wachbewusstseins erhalten oder wiederhergestellt werden soll. Eine grosse Ausnahme bildet nur der als (profanes) Genussmittel anerkannte Alkohol. Psychoaktive Substanzen, die zum Zweck der Normalisierung eingesetzt werden, gelten als Medikamente, ihre erwünschte Anwendung steht unter ärztlicher bzw. psychiatrischer Kontrolle. Als Drogen gelten psychoaktive Substanzen, wenn sie zu andern Zwecken, etwa der Erkundung "anderer" Erlebnishorizonte, eingesetzt werden. Vor allem seit den 60er Jahren wird Drogenkonsum vergleichsweise unabhängig von spezifischen und durchaus realen körperlichen und psychischen Gefährdungspotentialen als Subversion gegen die konsumgesellschaftliche Wirklichkeitsdefinition und als Rebellion gegen die geltende Gesellschaftsordnung bekämpft. Auch Folienrauchen dürfte mindestens anfänglich von den Jugendlichen selbst und von Aussenstehenden als Provokation und rebellische Auflehnung erfahren worden sein. Die bisherige Auswertung belegt, dass nicht nur die euphorisierend dämpfende Wirkung des Heroins gesucht wurde, sondern auf höchst widersprüchliche Weise auch mit den tabuisierten Gefahren von Sucht und sozialem Absturz gespielt wurde. Das Bild aller Heroin Konsumierenden hat sich in den letzten Jahren aber stark verändert. Sie gelten weithin nicht mehr als wagemutige und gefährliche Rebellen, sondern als hilfsbedürftige Kranke. So dürfte auch die langfristig vielleicht wichtigste Wirkung der ärztlichen Opiatverschreibung darin bestehen, dass Heroin unmerklich aus der Kategorie der Drogen in jene der Medikamente gerutscht ist und damit einen grossen Teil seiner Attraktivität in den Augen potentieller Konsumentinnen und Konsumenten verloren haben dürfte. Sowohl in der Selbst- als auch der Fremdwahrnehmung wurden tendenziell aus ehemals aufmüpfigen Rebellen, die aus dem Staat "Gurkensalat" machen wollten, kranke Sozialhilfeempfänger, die nun vom Wohlwollen des Staates abhängen, um überleben zu können. Die intensiven sozialtherapeutischen Anstrengungen der letzten Jahre dürften so auf einem vielleicht unerwarteten Umweg zur Entschärfung des Drogenproblems beigetragen haben. Jedenfalls würde das erklären, warum sich der Heroinkonsum gegenwärtig nicht mehr auszubreiten scheint obwohl die Droge im Vergleich zu den 80er Jahren mindestens 5-10 Mal billiger geworden ist. Damit taucht aber die dem "Drogenproblem" zugrunde liegende Problematik wieder ungelöst auf: Auch nicht-stromlinienförmige Jugendlichen (und Erwachsenen) müssen Platz und existentielle Würde in einer Gesellschaft finden, die allzu oft von einer eindimensional wirtschaftlichen Rationalität geprägt ist. Dazu würde u.a. wohl auch ein etwas entspannterer Umgang als heute üblich mit existentiell bedeutsamen Erfahrungen im Bereich (auch pharmakologisch) veränderter Bewusstseinerfahrungen gehören. Neben objektiv beschreibbaren Bedingungen des Drogenkonsums müssen immer auch die subjektiven Bedeutungen beachtet werden, welche Konsumierende und Aussenstehende dem jeweiligen Konsum beimessen. Neben pharmakologischen müssen immer auch direkte und indirekte soziale "Wirkungen" als Motive des Drogenkonsums mitberücksichtigt werden. Im Falle des Folien Rauchens dürften sich diese Bedeutungen in kurzer Zeit von etwas aufmüpfig Rebellischen hin zu etwas hilfsbedürftig Krankhaftem entwickelt haben. Das Folien Rauchen dürfte dadurch bei potentiell gefährdeten Jugendlichen viel an Attraktivität verloren haben. Der Gesellschaft entstehen durch die fürsorgerisch-therapeutische Betreuung zwar finanzielle Kosten, gleichzeitig verschwindet aber ein rebellisches Potential, das die gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit auf ernst zu nehmende Weise in Frage stellen könnte. Es wäre bedenklich, wenn ganz allgemein soziale Probleme durch eine grossflächige, ärztlich kontrollierte Anwendung von Psychopharmaka zugedeckt würden. Damit sollen natürlich nicht die Bemühungen einer Drogenpolitik im Sinne der "harm reduction" in Frage gestellt werden. Es soll aber darauf hingewiesen werden, dass möglicherweise hinter dem Schild des offiziellen Anti-Drogen-Diskurses eine allgemeine Pharmakologisierung der Gesellschaft stattfindet. Jedenfalls haben sich die Möglichkeiten des psychopharmakologisch Machbaren in den letzten Jahrzehnten vervielfacht und sie dürften auch weiter rasant ansteigen. Beunruhigend ist jedenfalls der weltweit stetig steigende Psychopharmakaverbrauch.