Die Lehrerforschung hat sich im letzten Jahrzehnt thematisch und methodisch enorm erweitert. Beispielsweise wird die gesamte berufsbiographische Entwicklung von LehrerInnen vertieft exploriert und analysiert, und dies vorwiegend mittels qualitativer Forschungsinstrumentarien. Innerhalb dieser Biographieforschung hat sich auch ein eigener Forschungsansatz etabliert, jener des Lehrerwissens, der als interdisziplinär zu bezeichnen ist: Darin werden entweder eher soziologisch-anthropologische oder aber pädagogisch-psychologische Zugänge gewählt. Ausgangspunkt der Erforschung des Lehrerwissens ist die Einsicht, dass der Lehrerberuf eine Profession ist, die mehr spezifisches Wissen, differenziertere Fertigkeiten und vertieftere Einstellungen erfordert, als es eine mehrheitlich fachorientierte Ausbildung – zwar mit pädagogisch-didaktischen Schwerpunkten – vermitteln kann. Gleichzeitig mehrt sich die Einsicht, dass zwischen Lehrerausbildungsstätten und den Universitäten als Forschungszentren in Bezug auf das Verhältnis Bildungsforschung und Unterrichtspraxis unbedingt eine engere Verbindung angestrebt werden muss. Ausgehend von der nordamerikanischen Lehrerforschung einerseits und der britisch-australischen "action research" andererseits, letztere insbesondere in Österreich rezipiert und weiterverarbeitet, wird holistisch die Erkundung, Analyse und Verwendung des persönlichen Wissens von Lehrpersonen zum zentralen Gegenstand der Forschung.
Im weiteren Sinne des wissenschaftstheoretischen und unterrichtspraktischen Disputs zwischen Lehrerforschung und Unterrichtspraxis werden somit in der vorliegenden Arbeit folgende Fragen aufgeworfen:
- Wie müssen Wissenschaftler und Lehrpersonen miteinander umgehen, damit einerseits das Alltagsbewusstsein der Praktiker durch Selbstreflexion erweitert wird, und somit die praktischen Wissensbestände der Lehrpersonen, die das Alltagswissen auszeichnen, nicht verborgen bleiben, und andererseits das Theoriebewusstsein der Forscher durch praxisorientierte Forschung und aktive Perspektivenübernahme erweitert wird, damit die bisherigen wissenschaftlichen Wissensbestände verfeinert, ergänzt und systemübergreifender werden?
- Lässt sich das praktische Wissen von Lehrpersonen adäquat erfassen und darstellen, so dass dadurch bestimmte Erklärungsmuster für spezifische Handlungen, Ereignisse oder Situationen deutlich zutagetreten und möglicherweise (an zukünftige JunglehrerInnen) 'weitergegeben' werden können?
- Wie lassen sich irrige, unproduktive oder verfängliche praktische Theorien von erfahrenen und zukünftigen Lehrpersonen – beispielsweise über Erfolg und Misserfolg unterrichtlichen Handelns, über Grenzen und Möglichkeiten der Berufsvorstellungen – ausfindig machen, ins Bewusstsein der Betroffenen heben und nach Möglichkeit wirksam verändern?
- Wie ist es zu verstehen, dass die verschiedenen praktischen Wissenstypen der Lehrpersonen mit den wissenschaftlichen Wissenspropositionen so oft 'kollidieren', d. h., offenkundig unvereinbar sind'?
- Wie können die sprachlichen Unterschiede überwunden werden, die das praktische Wissen der Lehrpersonen von den abstrakten Aussagen der Forschung auseinanderdividieren?