Die Epistemologie der Praxis: das praktische handlungsorientierte Wissen von Novizen- und Experten-LehrerInnen

Ref. 4229

General description

Period

1992-1996

Geographical Area

-

Additional Geographical Information​

Kanton Freiburg, Teile der Deutschschweiz

Abstract

Die Lehrerforschung hat sich im letzten Jahrzehnt thematisch und methodisch enorm erweitert. Beispielsweise wird die gesamte berufsbiographische Entwicklung von LehrerInnen vertieft exploriert und analysiert, und dies vorwiegend mittels qualitativer Forschungsinstrumentarien. Innerhalb dieser Biographieforschung hat sich auch ein eigener Forschungsansatz etabliert, jener des Lehrerwissens, der als interdisziplinär zu bezeichnen ist: Darin werden entweder eher soziologisch-anthropologische oder aber pädagogisch-psychologische Zugänge gewählt. Ausgangspunkt der Erforschung des Lehrerwissens ist die Einsicht, dass der Lehrerberuf eine Profession ist, die mehr spezifisches Wissen, differenziertere Fertigkeiten und vertieftere Einstellungen erfordert, als es eine mehrheitlich fachorientierte Ausbildung – zwar mit pädagogisch-didaktischen Schwerpunkten – vermitteln kann. Gleichzeitig mehrt sich die Einsicht, dass zwischen Lehrerausbildungsstätten und den Universitäten als Forschungszentren in Bezug auf das Verhältnis Bildungsforschung und Unterrichtspraxis unbedingt eine engere Verbindung angestrebt werden muss. Ausgehend von der nordamerikanischen Lehrerforschung einerseits und der britisch-australischen "action research" andererseits, letztere insbesondere in Österreich rezipiert und weiterverarbeitet, wird holistisch die Erkundung, Analyse und Verwendung des persönlichen Wissens von Lehrpersonen zum zentralen Gegenstand der Forschung. Im weiteren Sinne des wissenschaftstheoretischen und unterrichtspraktischen Disputs zwischen Lehrerforschung und Unterrichtspraxis werden somit in der vorliegenden Arbeit folgende Fragen aufgeworfen: - Wie müssen Wissenschaftler und Lehrpersonen miteinander umgehen, damit einerseits das Alltagsbewusstsein der Praktiker durch Selbstreflexion erweitert wird, und somit die praktischen Wissensbestände der Lehrpersonen, die das Alltagswissen auszeichnen, nicht verborgen bleiben, und andererseits das Theoriebewusstsein der Forscher durch praxisorientierte Forschung und aktive Perspektivenübernahme erweitert wird, damit die bisherigen wissenschaftlichen Wissensbestände verfeinert, ergänzt und systemübergreifender werden? - Lässt sich das praktische Wissen von Lehrpersonen adäquat erfassen und darstellen, so dass dadurch bestimmte Erklärungsmuster für spezifische Handlungen, Ereignisse oder Situationen deutlich zutagetreten und möglicherweise (an zukünftige JunglehrerInnen) 'weitergegeben' werden können? - Wie lassen sich irrige, unproduktive oder verfängliche praktische Theorien von erfahrenen und zukünftigen Lehrpersonen – beispielsweise über Erfolg und Misserfolg unterrichtlichen Handelns, über Grenzen und Möglichkeiten der Berufsvorstellungen – ausfindig machen, ins Bewusstsein der Betroffenen heben und nach Möglichkeit wirksam verändern? - Wie ist es zu verstehen, dass die verschiedenen praktischen Wissenstypen der Lehrpersonen mit den wissenschaftlichen Wissenspropositionen so oft 'kollidieren', d. h., offenkundig unvereinbar sind'? - Wie können die sprachlichen Unterschiede überwunden werden, die das praktische Wissen der Lehrpersonen von den abstrakten Aussagen der Forschung auseinanderdividieren?

Results

Das praktische, persönliche Wissen von erfahrenen Lehrpersonen: Auf einer mehr formalen Ebene zeichnet sich das praktische Wissen von Lehrpersonen durch folgende Strukturelemente aus (wobei dieser vorliegende Text ein Versuch einer Zusammenfassung der wichtigsten Interviews und Reflexionen aus meinen Publikationen ist): - Praxiswissen besteht aus persönlichen Konstruktionen, mittels derer sich die mit Unterricht und Erziehung befassende Lehrperson 'ihre' Erziehungs- und Unterrichtswirklichkeit immer wieder neu herstellen. Praktisches Wissen stellt damit auch ein Abwägen von früher und/oder gegenwärtig vermitteltem oder erfahrenem Wissen und dem eigenen persönlichen Erfahrungswissen dar. - Praxiswissen – fussend auf den eigenen erzieherischen 'Philosophien', Überzeugungen und Meinungen – besteht aus Beschreibungen, Deutungen und Vorhersagen jener Prozesse, Ereignisse und Handlungen von Unterricht, die für pädagogisch bedeutsam gehalten. werden. Dabei tritt praktisches Wissen nicht selten in Form allgemeiner Aussagen oder als 'Ein-Satz-Theorie' auf, welche den Charakter von Theoremen (Lehrsätzen) haben können. - Praxiswissen von Expertenlehrpersonen lässt eine Tendenz mehrkausaler Erklärungen erkennen, die analytisch nicht immer klar und konkret nachzuvollziehen sind. Denn praktisches Wissen trennt Beschreibungen, Berichte nicht immer von normativ-moralischen Aussagen. Diese widerspiegeln gewissermassen die ethische Ausrichtung der Berufsauffassung, d. h., das praktische Wissen scheint in der Tendenz immer auch normativ ausgerichtet zu sein. - Praxiswissen weist erfahrenen Lehrpersonen deshalb die (Wert-)Orientierung in einer widersprüchlichen, komplexen, mit Dilemmata bestückten, nicht leicht vorhersagbaren Schulwelt vor. Praktisches Wissen ermöglicht aber auch ein überlegtes, sicheres und – sofern notwendig – rasches Handeln angesichts 'kritischer Situationen', in denen der Handlungsdruck gross und eine Entscheidung allernotwendigst ist. - Praxiswissen 'funktioniert' mittels Problem-Erörterung, Problemumschreibung, Problembewertung und daraus sich 'aufdrängenden' möglichen Ursachenerklärungen, aus denen Handlungsalternativen entspringen und mögliche Erfolgs- oder Misserfolgsprognosen der nachfolgenden Konsequenzen gebildet werden. Erst auf dieser Basis wird eine Handlungsentscheidung getroffen. - Praxiswissen 'bedient' sich aber auch alternativer abstrakterer Konzepte aus der pädagogischen Literatur und Forschung, wenn diese in der täglichen Praxis komplexitätsreduzierend und situativ plausibel erscheinen.