Bereit für die Praxis? Eine berufsbiografische Studie zum Berufseinstieg von Lehrpersonen

Ref. 14027

General description

Period

2018-2021

Geographical Area

Additional Geographical Information​

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Abstract

Ausgangslage Der Einstieg in den Lehrberuf gilt als eine Schlüsselphase in der Berufsbiografie von Lehrpersonen. Berufseinsteigende Lehrpersonen werden mit den vielfältigen und komplexen Anforderungen des Lehrberufs konfrontiert, die professionelles Handeln erfordert. Im Orientierungsrahmen der Pädagogischen Hochschule Bern (PHBern) werden Professionalitätsdimensionen anhand von Kompetenzen in zehn für den Lehrberuf relevanten Anforderungsbereichen beschrieben. Vier davon beziehen sich auf den Unterricht: Unterrichtsplanung und -durchführung, Beurteilung und Diagnostik, Beratung und Begleitung sowie Klassenführung. Weitere fünf Bereiche betreffen die Schule: Zusammenarbeit mit der Schulleitung und dem Kollegium, Zusammenarbeit mit den Eltern, mit Fachpersonen und Institutionen, Schul- und Unterrichtsentwicklung sowie Administration und Organisation. Eine weitere zentrale Professionalitätsdimension bezieht sich auf die Weiterbildung der Lehrpersonen. Vor diesem Hintergrund fokussiert die Studie die professionelle Entwicklung von Lehrpersonen in relevanten Anforderungsbereichen der Berufseinstiegsphase. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts dienen dem vertieften Verständnis der professionellen Entwicklung von Lehrpersonen in der Berufseinstiegsphase im Kanton Bern und sind somit für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung sowie für das Schulfeld von zentraler Bedeutung. Fragestellungen Die Berufseinstiegsphase ist mit verschiedenen Anforderungen verbunden, die Lehrpersonen mit Hilfe verschiedener Ressourcen bewältigen müssen, um sich weiterzuentwickeln. Vor diesem Hintergrund wurden im Forschungsprojekt, das auf berufseinsteigenden Lehrpersonen der Vorschul- und Primarstufe fokussiert, anhand von 1) quantitativen und 2) qualitativen Methoden folgende Fragestellungen bearbeitet: 1) Quantitativ: • Wie schätzen Lehrpersonen ihre professionellen Kompetenzen am Ende ihres Studiums ein und wie verändern sich diese Einschätzungen in der Berufseinstiegsphase? • Inwiefern beeinflussen die personalen Ressourcen wie Berufsmotivation, Selbstwirksamkeitserwartung, Persönlichkeitsmerkmale und Widerstandskraft die Kompetenzeinschätzungen von Lehrpersonen in der Berufseinstiegsphase? • Inwiefern beeinflussen die sozialen Ressourcen wie Unterstützungsnetzwerke (beruflich & privat) und Unterstützungsangebote (Schule & Hochschule) die Kompetenzeinschätzungen der Lehrpersonen in der Berufseinstiegsphase? 2) Qualitativ: • Welche Anforderungen nehmen berufseinsteigende Lehrpersonen als Herausforderung wahr? • Welche personalen und sozialen Ressourcen nutzen die berufseinsteigenden Lehrpersonen, um die beruflichen Herausforderungen zu bewältigen? • Wie erleben die berufseinsteigenden Lehrpersonen ihre professionelle Entwicklung im ersten Berufsjahr? Theoretischer Hintergrund Theoretisch verortet sich die Studie in der berufsbiografischen Professionsforschung. Dieser Ansatz geht davon aus, dass sich Professionalität im Prozess des Lehrerinnen- und Lehrerwerdens entwickelt. Voraussetzung für die professionelle Entwicklung ist der Beruf selbst, der die dafür notwendigen Entwicklungsaufgaben und -gelegenheiten bereithält. In diesem Prozess des lebenslangen Lernens ist die Einfindung in den Beruf weichenstellend für die weitere Entwicklung. Lehrpersonen nutzen personale und soziale Ressourcen, um die Anforderungen der Berufseinstiegsphase, die individuelle Entwicklungsaufgaben darstellen, als Herausforderungen an die eigene Person wahrzunehmen und zu bewältigen. Auf diese Weise entwickeln sich Lehrerinnen und Lehrer weiter und finden in die Anforderungsstruktur ihres Berufs hinein. Die sich professionalisierende Lehrperson gestaltet demnach ihre Berufsbiografie im ständigen Austausch mit ihrem sozialen Umfeld in einem Lernkontext mit phasenspezifischen Anforderungen. Im Forschungsprojekt wurden die Lehrpersonen zu relevanten Anforderungsbereichen der Berufseinstiegsphase, zu personalen und sozialen Ressourcen sowie zur professionellen Entwicklung befragt. Projektziele Die Ergebnisse des Forschungsprojekts dienen dem vertieften Verständnis der professionellen Entwicklung von Lehrpersonen in der Berufseinstiegsphase im Kanton Bern (Schweiz) und sind somit für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung sowie für das Schulfeld von zentraler Bedeutung.

Results

Die Berufseinstiegsphase hält vielfältige und komplexe Anforderungen bereit, die professionelles Handeln erfordern. Ziel des Forschungsprojekts war es herauszufinden, welche Anforderungen anstehen, wie sich Lehrpersonen entwickeln und welche Ressourcen für die Bewältigung der Anforderungen bedeutsam sind. Methodisch ging es darum, die quantitativ ermittelten Effekte inhaltlich zu erklären und durch inhaltliche Sinnzusammenhänge vertieft zu verstehen. Umgekehrt, sollte die qualitativ ermittelte Bedeutung bestimmter Erfahrungen für die professionelle Entwicklung in der quantitativen Studie auf alle berufseinsteigenden Lehrpersonen bezogen und damit relativiert werden. Die Analysen des ersten Berufsjahres zeigen, dass die Lehrpersonen das erste Berufsjahr unvoreingenommen und beruflich zufrieden erlebten. Der selbständige Unterricht, die eigenen Vorstellungen und Wünsche in Bezug auf den Unterricht sowie die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Anspruchs-gruppen (Eltern, Schülerinnen und Schüler, Kollegium, Fachpersonen) haben die meisten von ihnen sehr beeinflusst. Sie haben das Gefühl, dass sie durch ihr Handeln berufliche Situationen positiv beeinflussen können und schätzen sich innerhalb und ausserhalb des Klassenzimmers als kompetent ein. Herausfordernd waren die Bereiche, die in den Praktika nicht optimal vorbereitet werden können, wie z.B. die Elternarbeit oder das Klassenmanagement. Für diese Bereiche ist erstmals die Lehrperson im Berufseinstieg verantwortlich und nicht mehr die Praxislehrperson. Die Planung und Umsetzung mussten flexibler gestaltet und an die Klasse angepasst werden, was in den Praktika weniger der Fall ist. Ausserdem ist die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Akteuren viel intensiver als in den Praktika. Dement-sprechend macht das erste Berufsjahr den Lehrpersonen bewusst, in welchen Bereichen noch Potenzial besteht und ermöglicht es ihnen, ihren eigenen Unterrichtsstil, ihre Art der Zusammenarbeit mit dem Kollegium, den Eltern und der Klasse sowie ihre Ressourcennutzung weiterzuentwickeln. Im zweiten Berufsjahr werden Unsicherheiten, die sich im ersten Berufsjahr abzeichneten, bearbeitet und zum Teil Sicherheit gewonnen. Zu Beginn des dritten Berufsjahres sind die Einschätzungen der Unterrichtsplanung, der Unterrichtsdurchführung, der Begleitung und der Beratung sowie der Unterrichtsreflexion tiefer als am Ende des Studiums. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass der Unterricht selbst sehr dynamisch und unvorhersehbar ist. Die Lehrperson muss flexibel auf neue Situationen reagieren können, unabhängig davon, ob die Situation schon mal erlebt wurde oder nicht. Hinzu kommen wechselnde Klassenstufen, neue Schülerinnen, Schüler und neue Eltern, die neu kennengelernt und mit denen ein Umgang gefunden werden muss. Ein weiterer Grund könnte sein, dass sich die Studierenden in den Praktika als kompetent wahrnehmen und sich am Ende des Studiums dementsprechend hoch einschätzen, was in einigen Studien bereits bestätigt wurde (vgl. Hascher, 2006). Daraus resultiert eine «Ernüchterung» im ersten Berufsjahr, da die selbständige Übernahme einer Klasse ohne unterstützende Praxislehrkraft mit viel mehr Unsicherheit verbunden ist und eine Rekontextualisierung von Situationen erfordert. Im zweiten Berufsjahr gibt es dann schon «einige Konstanten» (LP76), die Sicherheit und mehr Kompetenzerleben ermöglichen. Dies würde auch den Verlauf der Selbstwirksamkeitserwartung erklären, die im ersten Berufsjahr etwas abnimmt und dann wieder an-steigt – ebenso wie auch den Verlauf der unterschiedlichen Zusammensetzungen der Berufsmotivation. Die intrinsische Berufsmotivation bleibt über die ersten beiden Jahre relativ stabil, die Kompetenzeinschätzungen in den Anforderungsbereichen Unterricht und Lehrperson nehmen bei hoher intrinsischer, aber niedriger extrinsischer Berufsmotivation jedoch tendenziell ab. Bei niedriger intrinsischer, aber ho-her extrinsischer Berufsmotivation kommt es zu einem erhöhten Kompetenzerleben. Intrinsische Motivation kann daher mit einer eher romantischen Vorstellung des Lehrberufs einhergehen, die sich in den ersten Berufsjahren als nicht stimmig erweisen können. Auch wenn die Praktika erfolgreich absolviert werden, ist die Übernahme einer eigenen Klasse und die eigene Verantwortung für den Unterricht etwas, das im Studium nicht vollständig eingeübt werden kann. Der Einfluss der Selbstwirksamkeitserwartung der Lehrpersonen zeigt sich in den cross-lagged-Beziehungen, die bei denjenigen Kompetenzen gefunden wurden, bei denen die Arbeit mit Personen (andere oder die eigene Person) von Bedeutung ist (Eltern, Zusammenarbeit Kollegium, Klassenführung, Begleitung und Beratung, Berufs- und Unterrichtsreflexion). Insgesamt fühlen sich die Lehrpersonen durch ihr soziales Umfeld in ihrem beruflichen und in ihrem privaten Umfeld sehr gut unterstützt. Neben einem stabilen privaten Umfeld sind vor allem Bezugspersonen aus dem beruflichen Umfeld, die Unterstützung bieten und in der eigenen Klasse oder in einer Parallelklasse arbeiten, für die Lehrpersonen beim Berufseinstieg hilfreich. Das Kollegium an der Schule bietet in der Regel einen Pool an Unterrichtsmaterialien, Erfahrungen und mentaler Unterstützung, während die Schulleitung bei Überforderung oder Problemen in der Elternarbeit den Rücken stärkt. Die Entwicklung der Kompetenzeinschätzungen in der Berufseinstiegsphase wird auch von den Unterstützungsnetzwerken der Schulleitung, des Kollegiums und des privaten Umfelds beeinflusst. Dies gilt insbesondere für die Kompetenzen in den Anforderungsbereichen der Schule. Vereinzelt werden auch die Kompetenzeinschätzungen in den Anforderungsbereichen des Unterrichts positiv beeinflusst. Es zeigt sich, dass die Unterstützung durch die Schulleitung einen positiven Einfluss auf die Kompetenzeinschätzung in der Unterrichtsdurchführung im ersten Berufsjahr hat. Die qualitative Teilstudie zeigt, dass die Schulleitung unterschiedlich wahrgenommen wird. Zum Teil wissen die Lehrpersonen nicht genau, wann und bei welchen Themen sie die Unterstützung der Schulleitung in Anspruch nehmen können. Andere hatten schwierige Rahmenbedingungen, wechselnde Kollegien und Schulleitungen, was den Austausch mit der Schulleitung erschwerte. Wichtig ist, dass die Schulleitung klar kommuniziert und offen Unterstützung anbietet. Gerade im Bereich der Elternarbeit ist sie als Unterstützung und im Bereich der Unterrichtsdurchführung als Bestätigung von grosser Bedeutung. Mit diesen Ergebnissen lassen sich die Befunde zur Schulleitung in der quantitativen Studie nachvollziehen. Auch die Nutzung der Angebote der PHBern mit der Planungswoche und der Praxisbegleitwoche unter-stützen sehr gut die Einfindung in den Lehrberuf. Insbesondere das Mentorat bietet sehr gute Unterstützung, wenn die Konstellation passt. Ist die Mentorin oder der Mentor wenig motiviert oder andere Erwartungen und Vorstellungen von dieser Begleitung hat, wird das Mentorat als weniger hilfreich beschrieben. Dass sich Lehrpersonen mit Mentorat im ersten und im zweiten Berufsjahr als weniger kompetent einschätzen als Lehrpersonen ohne Mentorat, könnte zum einen mit Aspekten der Persönlichkeit zusammenhängen. Denn ob ein Mentorat angeboten wird oder nicht, liegt im Ermessen der Schule, respektive der Schulleitung. So wäre eine Entscheidung für oder gegen das Mentoratsangebot im Hinblick auf bestimmte Persönlichkeitseigenschaften der Lehrpersonen denkbar. Andererseits wäre eine mögliche Erklärung die gezielte reflexive Auseinandersetzung mit den eigenen Schwierigkeiten im Mentorat. Die Lehrperson erhält von der Mentorin oder dem Mentor ein Feedback und damit mögliche Handlungs-alternativen. Die eingeschätzte Nützlichkeit hat keinen direkten Einfluss auf die Kompetenzeinschätzungen, was durch die Ergebnisse der qualitativen Studie beantwortet werden kann. Diese zeigt, dass die meisten Lehrpersonen das Mentorat als hilfreich einschätzen, auch wenn sie nicht davon profitiert haben. Auch das Erleben von Weiterentwicklungsmöglichkeiten durch solche Programme wäre eine mögliche Erklärung für den Einfluss der Weiterbildung auf die Kompetenzeinschätzungen. Mit wenig selbständiger Unterrichtserfahrung kann eine Weiterbildung eher eine Überforderung darstellen; nach einem Jahr im Beruf kann sich die Lehrperson bereits besser in die Weiterbildung einbringen und erlebt mehr Kompetenz. Insgesamt fühlen sich die Lehrpersonen nach einem Jahr kompetenter und sicherer. Es gibt Bereiche, in denen Weiterbildungsbedarf besteht, wie z.B. der Umgang mit Heterogenität oder Aufgaben im Zusammenhang mit Diagnostik. Lehrpersonen, die selbstreflexiv und selbstregulierend, aber auch gewissenhaft und empathisch sind sowie soziale Ressourcen nutzen, sind für den Lehrberuf gerüstet. Eigenschaften wie Offenheit, gute Kommunikation und Spontaneität erlauben es ihnen, auf andere Personen zuzugehen, Hilfe anzunehmen und auf neue Situationen angemessen zu reagieren. Die Berufseinstiegsphase wird zusätzlich durch das Erleben von Autonomie und extrinsische Berufsmotivation attraktiv gemacht, was die Kompetenzeinschätzungen fördert. Wichtig sind eine zugängliche Ansprechperson, ein stabiles privates Umfeld, eventuell auch andere berufseinsteigende Lehrpersonen, sowie günstige Rahmenbedingungen (Klassenzusammensetzung, unterstützende Schulleitung und unterstützende Kolleginnen und Kollegen). Von besonderer Bedeutung ist die Unterrichtsplanung. Eine gute Vorbereitung erlaubt mehr Flexibilität in der Umsetzung und erleichtert so den Einstieg in den Lehrberuf. Nicht nur die PHBern hilft mit ihren Angeboten, sondern auch ein gutes Mentoring. Diese Ergebnisse sprechen für die Relevanz von Unterstützungsangeboten an Schulen in Form eines Mentorats und an pädagogischen Hochschulen durch Weiterbildungsangebote für berufseinsteigende Lehrpersonen, die explizit der Unterrichts- und Rollengestaltung dienen. Der Einbezug quantitativer und qualitativer Forschungszugänge erweist sich in dieser Studie als sinnvoll. Die Auseinandersetzung mit den quantitativen und qualitativen Ergebnissen ermöglicht einen umfassenden Blick auf die professionelle Entwicklung von den Lehrpersonen in der Berufseinstiegsphase.