Psychosoziale Faktoren in der Chronifizierung von Rückenschmerzen bei Schweizern und Italienischen Immigranten. Prospektive Studie über den Verlauf und Wirkung einer psychophysischen Intervention

Ref. 965

Allgemeine Beschreibung

Periode

1990-1993

Geographischer Raum

-

Zusätzliche geographische Informationen

Zürich (Region)

Kurzbeschreibung

Rentenzusprechungen wegen chronischen Rückenschmerzen sind im Zunehmen begriffen. Therapeutisch besonders ungünstig verlaufen Kreuzschmerzen bei Gastarbeitern. Es besteht die Hypothese, dass die Behandlung von Kreuzschmerzen, bei denen meistens Befunde fehlen, die das Ausmass der Behinderung erklären, durch inadäquate Schonung in den ärztlichen Behandlungskonzepten gefördert werden. Es war das Ziel, die Wirksamkeit einer neuartigen Interventionsstrategie (Trainingstherapie, verbunden mit psychologischen Gruppentherapien) sowohl an deutschsprachigen Patienten wie auch italienischen Fremdarbeitern zu prüfen und die Bedeutung von psychosozialen Faktoren für den Chronifizierungsprozess und für die Prädiktion des Therapieresultate zu untersuchen.

Resultate

Mit den Italienem in unserer Studie wurden uns speziell Patienten mit Unterschichtsmerkmalen und forgeschrittener Chronifizierung zugewiesen. Diese und nicht etwa der Unterschied in der nationalen Zugehörigkeit waren vermutlich für die Unterschiede der psychosozialen Merkmale und für das schlechte Abschneiden der Gastarbeitergruppe im Trainingsprogramm verantwortlich. Im Unterschied zu den deutschsprachigen Probanden, wo das Trainingsprogramm einen guten Effekt zeigte, ist ein solcher Therapieansatz in der jetzigen Form bei Gastarbeitern mit chronifizierenden Kreuzschmerzen in den meisten Fällen keine Lösung. Die Vermutung, dass Belastungsfaktoren wie Lebensereignisse, Unzufriedenheit bei der Arbeit und gestörte Beziehungen zu ungünstigen Therapieresultaten führen würden, liessen sich nicht bestätigen. Überhaupt scheint den zukunftsgerichteten Perspektiven als Prädiktoren vorrangige Bedeutung zuzukommen. Solche Perspektiven und prognostische Überzeugungen bilden wahrscheinlich das, was Therapeuten als "Motivation" eines Patienten für die Behandlung bezeichnen. Die Resultate weisen auch darauf hin, dass Rehabilitation ein Prozess ist, der ein Ziel braucht, das dem Patienten lohnenswert erscheint. Welche Konsequenzen können wir aus diesen Befunden ableiten? - Wir sollten in ärztlichen Gesprächen mit Patienten mehr über deren Überzeugungen, zukunftsgerichtete Perspektiven und Ressourcen reden; stattdessen erkundigen wir uns oft selektiv nach Defiziten und Konflikten in Vergangenheit und Gegenwart und verpassen damit diejenige Dimension, nach der sich vermutlich deren Verhalten richten wird. - Chronifizierung findet vor allem auch auf der Ebene der Gedanken statt. Damit sich pessimistische Überzeugungen nicht verfestigen, sollte eine frühzeitige, aktive bzw. trainingsorientierte Behandlung von Kreuzschmerzen dem Patienten die Erfahrung vermitteln, dass sein Rücken etwas leisten kann; eine baldige Rückkehr an die Arbeit mit gradueller Steigerung der Belastung ist dabei eine wichtige Unterstützung. - Für bereits chronifizierte Patienten, die sich selber eine schlechte Prognose stellen und wenig Zukunftsperspektiven erkennen können, insbesondere also für Gastarbeiter, müssten die Therapieziele und der Zeitrahmen eines trainingsorientieren Rehabilitationsprogramms flexibler gestaltet werden: zu prüfen wäre, ob ein individuell ausgehandeltes, verhaltensorientiertes, bescheideneres Ziel aus dem Alltag des Patienten (z. B. sein Hobby wieder ausüben können) für den chronifizierten Patienten ein Ziel sein könnte – ein Ansatz, wie er in den stark verhaltenstherapeutisch orientierten Programmen der USA (Hazard, 1993, persönliche Mitteilung) verfolgt wird.