Die Dissertation untersucht die Organisation und Aushandlung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und die Herausbildung des sozialen Beziehungsgeflechtes nach dem bosnischen Bürgerkrieg (1992-1995). Es wird gefragt, welche Grenzziehungen und Differenzen zwischen den vom Krieg unterschiedlich betroffenen Individuen und Gruppen bestehen und welche Zugehörigkeitsmerkmale diese Verhandlungen situativ durchdringen. Dabei werden insbesondere die Deutungen von Frauen bei der Interpretation ihrer Kriegserfahrungen und –erinnerungen in den Blick gerückt. Es interessiert, inwiefern sich aus Sicht der Frauen die Geschlechterbeziehungen und die ethnischen Zugehörigkeitsgefühle durch den Krieg gewandelt haben und auch, ob die Frauen dem international verbreiteten Bild entsprechen, das sie als besonders „friedliebend“ darstellt und sie als jene Brückenbauerinnen bezeichnet, die in der Nachkriegszeit Versöhnung bringen.
Für die Forschungsarbeit wurde die Gemeinde Prijedor im Nordwesten Bosnien-Herzegowinas ausgewählt. Aufgrund der Kriegsereignisse und der Führung von drei Internierungslagern war die Gemeinde bereits kurz nach Kriegsausbruch im Jahre 1992 in den Blick der Weltpresse geraten. Stellte die bosniakische Bevölkerung vor dem Krieg noch 44%, so verringerte sich diese infolge der ethnischen Säuberungen auf gerade noch 1%. Der serbische Anteil an der Bevölkerung verdoppelte sich hingegen während der Kriegszeit, insbesondere aufgrund der internen Fluchtbewegungen. Die Folgen dieser demografischen Umschichtung zeigen sich auch 10 Jahre nach Kriegsende dominant im Alltag der Prijedorer Gesellschaft. Begriffe wie Krieg, Internierung, Folter, Flucht, Rückkehr aber auch Opfer-Täter-Bilanzierungen sind allgegenwärtig.
Während den Feldphasen in den Jahren 2005 und 2006 wurden mittels biografisch-narrativen Interviews die Lebensgeschichten von 32 ausgewählten Frauen erhoben und zugleich ihre soziale Einbettung mit Hilfe der ego-zentrierten Netzwerkanalyse erfasst. Die Kombination dieser beiden unterschiedlichen Methoden erwies sich in der Forschungspraxis und der Analysearbeit als Herausforderung, weil je nach Methode unterschiedliche Erzählstränge motiviert wurden. Trotzdem gilt es zu betonen, dass es die beiden gewählten Methoden in ihrer Kombination ermöglicht haben, Aussagen hinsichtlich des sich im sozialen Beziehungsgeflecht abzeichnenden Wandels zu rekonstruieren.
Die zwei unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen legten eine zweifache theoretische Rahmung nahe: um die sozialstrukturelle Zugehörigkeit und das Alltagshandeln der Interviewten zu fassen, boten sich Pierre Bourdieus Ausführungen zu den Habitusformationen und Kapitaltheorien an. Mit den Ausführungen zum Konzept der Zugehörigkeiten (belonging) konnten zudem unterschiedliche Differenz- und Ungleichheitserfahrungen theoretisiert werden. Der intersektionale Ansatz, wonach unterschiedliche Zugehörigkeiten (Ethnizität, Gender, Klasse etc.) nicht einzeln, sondern in ihrer Überschneidung wirksam werden, war dabei leitend.
Die Erkenntnisse aus der Analyse lassen sich wie folgt umreissen: Der bosnische Krieg hinterliess eine Gesellschaft, die von einem tiefgehenden Klima des Misstrauens und der Angst geprägt ist. Es wurde deutlich, dass der Krieg eine stark segregierte Gesellschaft herausbildete, in der sich Gruppen mit unterschiedlichen Zugehörigkeiten gegenüberstehen: die ehemals Verfolgten stehen den nicht Verfolgten gegenüber, die Bosniakinnen den Serbinnen, die vor Ort Verbliebenen den Zurückgekehrten, die Linientreuen den Verweigerern, die Beklagten den Angeklagten etc. Es sind hauptsächlich drei Kategorien, die für diese ein- und ausschliessende Differenzierung relevant sind und die die Annäherung der zerrissenen Gesellschaft erschweren:
Zum einen sind die insbesondere durch den Krieg instrumentalisierten ethnoreligiösen Zugehörigkeitskategorien weiterhin absolute und ausschliessende Kriterien für die Erhaltung ethnischer Grenzen. Mit Hilfe der Netzwerkanalyse konnte jedoch aufgezeigt werden, dass sich die sozialen Unterstützungsnetzwerke bereits vor dem Krieg als auch nach dem Krieg ethnisch homogen ausgestalten, und dass diese Beziehungen primär verwandtschaftlicher Natur sind. Folglich zeigen sich vorwiegend Netze, die aus dichten und starken Beziehungsgeweben bestehen. Anhand der Verwandtschaftsbeziehungen wird zudem die zentrale Rolle von Frauen für den Unterhalt starker Beziehungen über die agnatische Gruppe hinaus deutlich. Damit kann ihre vermittelnde Rolle in Familie und Nachbarschaft bekräftigt werden.
Zum zweiten zeigen sich dominierende Hierarchisierungstendenzen, die sich auf die jeweils erlebte Kriegs- und Migrationszeit zurückführen lassen und die für eine neue soziale Kategorienbildung verantwortlich zeichnen: Zurückgekehrte, Verbliebene und Internvertriebene stehen sich in Prijedor neu gegenüber. Die gruppeninterne Vergemeinschaftung kann sich also durch das Bewusstsein, sich aufgrund der Kriegs- und Migrationserfahrungen in einer ähnlichen gesellschaftlichen Lage zu befinden, verändern und das ethnische Moment in den Hintergrund treten lassen.
Als dritter Graben ziehen sich kollektive Viktimisierungstendenzen durch die segregierte Gesellschaft. Diese Viktimisierung zeigt sich sowohl über das Geschlecht als auch über die ethnoreligiöse Bestimmtheit der jeweiligen Gruppe. Die vergeschlechtlichte Komponente wurde bereits während der Kriegszeit relevant, als eine gezielte Instrumentalisierung der Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit durch die sich konkurrierenden ethnischen Nationalismen beobachtbar war. Die feminisierte Opferidentität führt in der Nachkriegszeit dazu, dass die Frauen weiterhin als Opfer betrachtet werden – und sich auch selbst als solche wahrnehmen –, denen qua ihrer Rolle die Versöhnung übertragen wird. Zudem konstituieren sich die ethnischen Gruppen als Opfergemeinschaften, die nach innen solidarisch agieren, sich gegen aussen aber gegen die Anderen, die als die Täter bezeichnet werden, abgrenzen müssen. Damit wird es unmöglich, die bis jetzt alleinige akzeptierte Identifikation der Nachkriegszeit, nämlich die Selbstwahrnehmung und Stilisierung als Opfer und die Abkapselung der eigenen ethnischen Gruppe, zu durchbrechen.
Der Umgang mit den massiven Verletzungen in der Region Prijedor zeichnet sich bei den vom Krieg betroffenen Frauen durch konträre Grundhaltungen aus. Während diejenigen, die in Prijedor nicht zu den Verfolgten gehörten, ihre Kriegserinnerungen und –erfahrungen relativieren und damit weder eine individuelle noch kollektive Täterschaft anerkennen, zeigt sich bei den ehemaligen Verfolgten und Opfern eine (Über-)Betonung ihrer Kriegserfahrungen, um die Anerkennung und Aufarbeitung der Kriegsgräuel, die Klärung über den Verbleib der Vermissten und die Verurteilung der Kriegsverbrecher zu erkämpfen. In diesen zwei unterschiedlichen Umgangsarten zeigt sich ein Teufelskreis aufgrund dessen es für die betroffenen Frauen unmöglich erscheint, eine versöhnende Rolle einzunehmen. Gemeinsam ist den interviewten Frauen hingegen das verbreitete geschlechterbasierte Opferempfinden, das seine Basis im Krieg findet, wo Weiblichkeit und Männlichkeit eine starke Differenzierung erfahren haben. Zusätzlich wirkt sich das Kriegsgeschehen durch die Stärkung der ethnischen Komponente auf die vor dem Krieg zentralen nachbarschaftlichen und freundschaftlichen Austausch- und Unterstützungsbeziehungen entzweiend aus: es sind heutzutage primär die verwandtschaftlichen und ethnischhomogen basierten Beziehungen, die sich als tragfähig für die Bewältigung des schwierigen Nachkriegsalltags erweisen.
(März 2010)