Zwischen 1926 und 1973 wurden vom "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" der Pro Juventute über 600 Kinder jenischer Herkunft in systematischer Weise ihren Eltern weggenommen und in Pflegefamilien, Heimen oder an Arbeitsstellen plaziert. Es ist heute unbestritten, dass es sich bei dieser Aktion um einen in der neueren Schweizer Geschichte beispiellosen Akt von Diskriminierung und Ausgrenzung handelte, der nach einer neuesten juristischen Würdigung sogar Züge eines kulturellen Genozids trägt. Im Verlauf dieser Aktion wurden von verschiedenen Institutionen, besonders aber vom "Hilfswerk" bzw. dessen Exponenten, unterschiedliche Akten angelegt. Im Projekt soll der Frage nachgegangen werden, welche Rolle diese Akten im Prozess des Ausschlusses der Jenischen in der Schweiz spielten. Gemeinhin als die allgemeine Form der Dokumentation und Erinnerung von Institutionen bzw. Bürokratien und als Rechtfertigung von deren Handeln betrachtet, sind die Akten selbst in sozialwissenschaftlichen Analysen bislang kaum kritisch hinterfragt worden. Insbesondere ist das Phänomen der Stigmatisierung durch Aktenführung weitgehend unerforscht. Unter Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Methoden sowie der literatur- und geschichtswissenschaftlichen Schriftlichkeits-Debatte, deren Gewinn u.a. in einer stärkeren Betonung der kulturellen Praktiken hinter dem überlieferten Schriftgut liegt, soll anhand der bestehenden Personendossiers untersucht werden, wie sich die angeblich fürsorgerische Behandlung in privaten, parastaatlichen und staatlichen Institutionen aktenmässig niederschlug. Forschungsstrategisch werden dazu sogenannte Aktenbiografien erstellt, um analysieren zu können, welche Art von Akten von wem, wann und zu welchen Zwecken überhaupt produziert oder gesammelt und vor allen Dingen auch aufbewahrt wurde, welche Techniken dabei angewandt wurden und welche Verwendung diese Akten zu verschiedenen Zeitpunkten inner- und ausserhalb dieser Institutionen erfuhren. Danach soll analysiert werden, welche konkreten Folgen diese Art der Aktenführung für die Betroffenen hatte, das heisst, welcher Zusammenhang besteht zwischen der Aktenführung und Prozessen der Stigmatisierung bzw. der Exklusion im Sinne eines sequentiell vernetzten, kumulativen Ausschlusses aus einer Mehrzahl von gesellschaftlichen Teilbereichen (Familie, Bildung, Wirtschaft usw.). Hierbei gilt ein besonderes Augenmerk allfälligen geschlechtsspezifischen Differenzen. Es kann davon ausgegangen werden, dass Personenakten im allgemeinen eine Tendenz zur Normierung von Karrieren und damit auch von Lebensläufen innewohnt; sie sind also karrierebeeinflussend, wenn nicht -bestimmend, folglich werden sie auch zu (massgeblichen) Instrumenten von (gesellschaftlichen) Prozessen der Integration oder eben des Ausschlusses, indem sie etwa Stigmatisierungen fortschreiben und verstärken. Auf einer allgemeineren Ebene interessiert deshalb die Frage, inwiefern Personendossiers, die durch soziale Kontrollinstanzen bzw. Bürokratien angelegt werden, Lebensläufe eben nicht nur dokumentieren, sondern direkt oder indirekt als Lebenslauf- und Biografie-Generatoren fungieren bzw. inwiefern und wie diese Institutionen sozialen Ein- und Ausschluss steuern. Zu diesem Zweck werden die im Zusammenhang mit dem "Hilfswerk" erstellten Akten analysiert, aus Vergleichsgründen aber auch zeitgleiche Fürsorgeakten, die über jenische wie nicht-jenische Kinder, Jugendliche und Erwachsene in staatlichen Vormundschaftsbehörden angelegt wurden. Mittels einer Inhaltsanalyse von autobiografischen Aufzeichnungen sowie Befragungen von Betroffenen soll schliesslich auch der Frage nach den konkreten Auswirkungen bzw. der Bedeutung der Akten für die "Betreuten" nachgegangen werden.