Die Schulklasse als Einheit im Unterrichts- und Lerngeschehen, zusammengesetzt aus Individuen des gleichen Lebensalters, gehört dermassen zu unserer Erfahrungswelt – und sei es nur in Erinnerung an die eigene Schulzeit –, dass sie der Aufmerksamkeit im allgemeinen entgeht und man geneigt sein könnte, sie als notwendige Organisationsform von schulischen Lernprozessen zu begreifen und zu übersehen, dass sie eine willkürliche Grösse ist. Dies könnte erklären, weshalb so wenig wissenschaftliche Literatur zum Thema Jahrgangsklasse existiert. Schulklassen sind eine Selbstverständlichkeit, eine Sache, die sich so weit verselbständigt hat, dass Lehrer beispielsweise ihr Eigenschaften zuschreiben (eine schwierige, eine desinteressierte Klasse, eine Klasse, die Widerstand leistet, ein Ding, das seinen eigenen Geist "Klassengeist" hat usw.). Man gewinnt oft den Eindruck, dass die Lehrer ihre Arbeit auf die abstrakte Einheit "Klasse" ausrichten und nicht auf lernende Individuen.
Der Verfasser dieser Studie ist der Genese und den pädagogischen Implikationen dieses Mythos nachgegangen. Er beschreibt die Herausbildung des Unterrichts in Klassen seit dem 16. Jahrhundert, eingeführt von Schulgründern, die sich auf Quintilian (ca. 40-120 n. Chr.) berufen, und auf den langsamen, aber anscheinend unwiderstehlichen Prozess der Durchsetzung dieser Idee, welche die letzte feindliche Bastion (in der Handarbeitsschule der Mädchen) erst im 20. Jahrhundert hat nehmen können; zu einem Zeitpunkt notabene, wo die grossen Reformpädagogen dieses unseres Jahrhunderts eben begannen, auf ältere Organisationsformen des Unterrichts zurückzugreifen und sie weiterzuentwickeln. Der Autor geht bei seiner Beschreibung des Eroberungsfeldzugs der Jahrgangsklassenidee auch auf alternative Formen ein, die von der Entwicklung gestreift wurden und auf die sich eine Rückbesinnung heute durchaus lohnt.
Der Autor macht kein Hehl aus seiner kritischen Einstellung gegenüber der Institution Jahrgangsklasse. Für ihn liegt jedem Unterricht im alters- und leistungshomogenen Verband die Idee von einem normalen, standardisierten Zweit-, Dritt- oder auch Fünftklässler zugrunde, der als Bewertungsmassstab wie auch als zu erreichende Norm gilt, was die Klasse zum Prokrustesbett macht. Er zweifelt aus diesem Grund auch an der Realisierbarkeit innerer Schulreform im Sinn einer Individualisierung und Differenzierung, die an die Strukturen der Schulorganisation nicht zu rühren wagt.