Die Schweiz ist in Europa aktuell das Land mit dem höchsten Anteil an Menschen mit einem Migrationshintergrund. In den vergangenen Jahren ist der Faktor Religion vermehrt ins Zentrum eines vielschichtig geführten politischen, medialen und wissenschaftlichen Pluralismus- und Integrationsdiskurses gerückt. Dabei standen vor allem die Minderheitsreligionen, insbesondere der als „fremd“ wahrgenommene Islam und seine Gemeinschaften im Zentrum des Interesses und die Forschung konzentrierte sich entsprechend auf Differenzkonzepte und Ungleichheitsstrukturen. Der Fokus lag auf ethnisch-national und/oder religiös definierten Gruppen und Gemeinschaften.
Dabei blieben vor allem zwei Wirklichkeitsaspekte unterbeobachtet: Das immigrierende Christentum, das unter den eingewanderten Religionen eine durch Heterogenität charakterisierte Mehrheitsreligion darstellt, und die biographische Dimension als Zugang zu individuellen Migrationserfahrungen und Prozessen der Verarbeitung. Die geplante Studie nimmt sich diesen Forschungslücken an und fragt nach der Funktion, der Bedeutung und dem Wandel von Religiosität in biographischen Prozessen unter den Bedingungen von Migration. Aus der Subjektperspektive sollen Religiosität und Migrationserfahrungen als Teil von Biographie untersucht werden. Dabei ermöglicht gerade das narrative Interview ihre Rekonstruktion im Kontext von Sozialem und Zeitlichem.
Diese Herangehensweise löst sich von einer primär Defizit bzw. Strategie orientierten Sicht von Religion (Anomiethese) und untersucht das Zusammenspiel von Religiosität und Migrationserfahrung („beliefs and variant contexts“, Schäfer/Simoncic 2010) als spezifischer Fall biographisch bedingter Transformationsprozesse. Wenn Biographizität – die notwendige Leistung und Kompetenz eines Individuums neue Erfahrungen zu erschliessen, zu verarbeiten und zur Gestaltung der eigenen Lebensgesichte einzusetzen – eine Schlüsselkompetenz des modernen Menschen überhaupt darstellt, dann wohl erst recht unter den Bedingungen der Migration. Ob und inwiefern sich jedoch die modernisierungstheoretische These von der Individualisierung der Lebensläufe und damit auch der Religiosität auf die Situation von Menschen mit Migrationshintergrund übertragen lässt, gilt es empirisch zu untersuchen.
Die qualitative Studie will dieser Frage anhand von zwei Kontrastgruppen aus dem spanischsprachigen Raum in generationenübergreifender Weise nachgehen. Daraus ergibt sich auch die Möglichkeit zu Vergleichen innerhalb und zwischen den europäischen und den südamerikanischen „Christentümern“, deren Herkunftskontexte und Frömmigkeitstypen unterschiedliche Entwicklungsverläufe vermuten lassen.
Mit dem biographieanalytischen Ansatz, der die Akteur und Strukturebenen aus der Subjektperspektive her rekonstruieren lässt, will die Studie zu einem vertieften Verständnis des Zusammenspiels individueller Religiosität und sich verändernden sozialen Situationen beitragen. Sie trägt so zu einer empirisch basierten Differenzierung der makrotheoretischen Individualisierungstheorie bei und dockt an die breitere Debatte zum Verhältnis von Religion und Moderne an, die sich in Zeiten der Migration und Transkulturalität von ihrer eurozentrischen Perspektive zu lösen hat.