1. Einleitung
In Uebereinstimmung mit dem Forschungsplan wurde im Herbst 2002 eine schriftliche Erhebung bei den Präsidenten und Präsidentinnen aller (ca. 5000) Schweizer Lokalparteien durchgeführt, bei der ein mit der Umfrage von 1989 weitgehend identischer Fragebogen angewendet wurde. Auch der Rücklauf war (mit 2550 Fragebogen, d. h. ca. 50%) praktisch auf demselben Niveau. Da sich die Population im Untersuchungszeitraum aufgrund zahlreicher Abgänge und Neuzugänge stark verändert hat, liegen allerdings nur von 912 Einheiten zu beiden Zeitpunkten Daten vor. Das Hauptanliegen bestand darin, wenigstens die wichtigsten Ergebnisse möglichst rasch dem Fachpublikum wie auch einer breiteren Oeffentlichkeit niederschwellig verfügbar zu machen. Erstens wurde mit Eigenmitteln eine Broschüre (in deutsch und französisch) erstellt, die allen Teilnehmern des Surveys kostenlos zugesandt wurde. Zweitens wurden zahlreiche Artikel in renommierten Schweizer Zeitungen veröffentlicht und überdies sind aus den Kontakten mit Pressemedien (z. B. in Form von Interviews) zahlreiche Berichterstattungen entstanden. Drittens haben die Mitarbeiter in Parteien und Gemeinden eine rege Vortragstätigkeit. Und viertens sind die meisten Arbeiten bereits seit längerem auf einer Website "Vierzehn Jahre politischer Wandel" veröffentlicht, wo sie bisher weltweit über 20000 Rezipienten gefunden haben. Im Zuge dieser Umsetzungsaktivitäten sind - als Reaktion auf Nachfragebedürfnisse - verschiedene Spezialanalysen für einzelne Parteien und Kantone notwendig geworden, die eine Verlängerung der Auswertungsphase (um zwei Monate) erforderlich machten.
2. Mitgliederentwicklung
Der in vielen europäischen Ländern beobachtbare Rückgang der Mitglieder ist auch in den Schweizer Parteien zu beobachten. Im Durchschnitt sind in den vier Bundesratsparteien seit 1990 die Mitgliederzahlen um etwas mehr als 20 Prozent geschrumpft. Dabei haben die beiden ideologisch extremen Parteien SP und SVP mit einer Abnahme von rund 15 Prozent deutlich weniger Mitglieder verloren als die von rechts in die Mitte tendierenden FDP und CVP, die ein Viertel ihres Mitgliederbestandes eingebüsst haben. Noch deutlicher sind die Verluste der Parteien im Kern ihrer Basis, bei den Aktiven, und im äusseren Basissegment, die die Anhängerschaft umfasst. In beiden Segmenten sind die Zahlen um ein Drittel geschrumpft, und es kann von einer Erosion der inneren und äusseren Basissegmente gesprochen werden. Besonders schmerzhaft ist der Schrumpfungsprozess für die FDP und CVP, aber in unterschiedlichen Segmenten. Während die FDP 40 Prozent ihrer Anhängerschaft verloren hat, ist die Zahl der Aktiven bei der CVP beinahe um die Hälfte geschrumpft (Meuli 2004a). Dementsprechend ist für die Mehrheit der Parteien die Kandidatenrekrutierung für Parteiämter wie auch für öffentliche Aemter in den letzten Jahren noch schwieriger geworden (Ladner 2003a/2003e). Die Lokalparteien leiden unter einer fortschreitenden Überalterung. Nur 27.6 Prozent der Anhängerschaft ist jünger als 40. Im Jahr 1990 waren es noch deutlich über 30 Prozent. (Geser 2003a; 2003c). Zwischen 1990 und 2003 haben die Bundesratsparteien rund einen Fünftel ihrer Mitglieder verloren. Besonders gross waren die Verluste bei FDP und CVP mit mehr als einem Viertel, etwas geringer bei SVP und SP mit etwas weniger als 15 Prozent. Obschon die SP 1995 wählerstimmenstärkste Partei geworden ist, sind ihre Mitgliederzahlen weiter zurückgegangen (Ladner 2003a; Geser 2003a).
3. Parteiinterne Versammlungsaktivitäten
Im Zuge der generellen Verringerung des Aktivitätsniveaus haben die Lokalsektionen die Frequenz sowohl von allgemeinen Parteiversammlungen wie auch von Vorstandssitzungen im Durchschnitt erheblich reduziert (Geser 2004c). Dabei sind nicht nur die Unterschiede zwischen Stadt und Land und den drei Sprachregionen, sondern auch zwischen links und rechts sind die Differenzen geringer geworden: indem die extrem linken Gruppierungen ihre früher ungewöhnlich rege Versammlungstätigkeit verringert und sich damit dem "Courant Normal" etablierter bürgerlicher Parteisektionen angenähert haben. Schliesslich fällt auf, dass die Basisversammlungen einen relativ stärkeren Schwund als die Vorstandssitzungen erfuhren: mit der Folge, dass sich das kommunikative Geschehen und die faktischen Einflusschancen zunehmend von der allgemeinen Mitgliederschaft auf die Führungsorgane (Vorstand und Präsident) verlagert haben (Geser 2004c).
4. Organisatorische Führungsstrukturen
In Bezug auf die innerparteilichen Einflussverhältnisse wird von den meisten Lokalparteien dem Vorstand das grösste Gewicht beigemessen. Das gilt mit wenigen Ausnahmen für alle Parteien (Geser 2003h; Ladner 2004). Die lokale Organisationsebene der Schweizer Parteien unterliegt seit Ende der 80er-Jahre auch einem strukturellen Erosionsprozess, der in einer Rückbildung formaler Führungsorgane ihren Ausdruck findet. Erstens gibt es bei kleineren und kleinsten Parteisektionen (auch in städtischen Milieus) eine Tendenz, auf ein kollektives Führungsgremium völlig zu verzichten: so dass sich die gesamte Parteiaktivität im polaren Spannungsfeld zwischen Parteipräsident und Parteiversammlung vollzieht. Zweitens lässt sich eine breite Tendenz zur personellen Verkleinerung der Vorstandsgremien konstatieren: insbesondere bei grösseren Parteien städtischer Gemeinden. Drittens findet man im oberen Segment besonders grosser und aktiver Parteien eine wachsende Tendenz, auf die Ausbildung eines - den Präsidenten unterstützenden - "Geschäftsleitungsgremiums" zu verzichten. (Geser 2004e).
5. Parteifinanzen
Die Jahresbudgets der Lokalsektionen haben sich in den letzten 13 Jahren recht unterschiedlich entwickelt. Während die SP-Sektionen das Budget im Schnitt um 21 Prozent steigern konnten - und damit zur wohlhabendsten Partei geworden sind - haben sich die Einnahmen der CVP, FDP und SVP - Sektionen (inflationsbereinigt) reduziert. Offensichtlich können die SP-Gruppierungen heute zwar mit einer umfangreicheren, sehr wohl aber zahlungskräftigeren Anhängerschaft rechnen. Als Folge der generell negativen Mitgliederentwicklung sind die Einnahmen aus obligatorischen Mitgliederbeiträgen - zumindest in Relation zu anderen Einnahmequellen - in den meisten Parteien eher gesunken (Schaller 2003), auch wenn die Eigenfinanzierung nach wie vor überwiegt (Geser/Ladner/Meuli/Schaller 2003a: 17). Während die Sektionen der FDP und SVP die diese Lücke primär durch externe Spenden ausgleichen, so machen SP und CVP die Verluste eher durch steigende Mandatssteuern (=Abgaben gewählter Amtsträger) wett. Zumindest in den Städten nähern sich die die FDP und die SVP dem Modell der "Catch-all Party" an, die CVP und die SP demgegenüber dem Modell der "Cartel-Party". Die Struktur der Ausgabenbudgets blieben insgesamt stabil. Obwohl zahlreiche Sektionen eine zunehmende Intensität der Parteienkonkurrenz vermelden (vgl. Geser 2004f), haben sich die Wahlkampfaufwendungen (die unverändert ca. 45% des Budgets ausmachen) kaum erhöht (Schaller 2003). Über alle Ortsparteien gesehen haben sich die Kosten für Wählkämpfe nur minimal erhöht (Schaller 2003; Geser/Ladner/Meuli/Schaller 2003a: 15).
6. Ideologischer Wandel und Sachpolitik
Das schweizerische Parteiensystem hat sich seit 1990 stark polarisiert. Gemessen am Skalenabstand der extremsten Parteien SP bzw. Grüne auf der linken und der SVP auf der rechten Seite der Links-rechts-Skala hat die Divergenz zugenommen. Innerhalb der politischen Lager sind unterschiedliche Prozesse abgelaufen. Im linken Lager sind die ideologischen Differenzen zwischen der SP und den Grünen verschwunden. Im Bürgerblock haben zwei Entwicklungen stattgefunden. Zum einen hat die SVP die FDP als Partei am rechten Rand abgelöst, und zum anderen ist die ideologische Distanz zwischen SVP, FDP und CVP deutlich grösser geworden. Hingegen ist der Abstand zwischen dem linken und dem bürgerlichen Lager unverändert gross geblieben. Diese Trends sind auf der nationalen Ebene und in den Kantonen zu beobachten. In den Gemeinden haben die Divergenzen sowohl zwischen den Extremen wie auch innerhalb des Bürgerblocks weniger ausgeprägt stattgefunden. Auch gelten sie vorwiegend für die deutschsprachige Schweiz (Meuli 2004b). Umweltfragen haben seit 1989 bei allen Parteien an Interesse und Bedeutung verloren. Sogar die Grünen selbst sind heute weniger bereit, Umweltschutz auf Kosten wirtschaftlicher Nachteile zu betreiben. (Geser 2003g). Entgegen theoretischer Erwartungen zeigt sich, dass das Schweizerische Parteiensystem zumindest auf lokaler Ebene nach wie vor durch gewisse konfessionelle Milieus geprägt sind, die im Intervall zwischen beiden Untersuchungen (1989 bis 2002) ihre Determinationskraft beibehalten haben. Vor allem besteht eine geringere Tendenz zur ideologischen Links-Rechts-Polarisierung und eine stärkere Tendenz rechtsstehender Parteien, sachpolitische Positionen des Zentrums (oder gar der Linken) mitzutragen (Geser 2004d).
7. Stellung in der Gemeinde
Während in den 70er und 80er-Jahren noch eine wachsende Politisierung der kommunalen Probleme und Entscheidungsfragen zu beobachten war, haben sich die Lokalparteien seit 1989 auf ein eher unpolitischeres Verständnis ihrer Tätigkeit zurückgezogen (Geser 2003e). Dies gilt allerdings vorrangig für kleinere Gemeinden (Geser 2003e). Auch die Einflussstellung der Lokalparteien innerhalb des politischen Systems der Gemeinden scheint einer gewissen Erosionstendenz zu unterliegen. So hat sich der Anteil der Parteilosen in den Exekutiven im Untersuchungsintervall von 15 auf fast 20% erhöht, während vor allem die Bundesratsparteien (inkl. die SVP (!)) Einbussen hinnehmen mussten (Ladner 2003a). Aus weiteren (noch nicht publizierten) statistischen Analysen geht hervor, dass die Lokalsektionen ihren Einfluss auf die Kommunalpolitik und die Entscheidungen in der Exekutive heute geringer als vor 14 Jahren einschätzen. Besonders deutlich zeigt sich dieser Machtverlust erstaunlicherweise bei den gut etablierten Parteien, die im Gemeinderat über 50% der Sitze innehaben. Die Lokalparteien bekunden immer mehr Mühe, an den kommunalen Exekutivwahlen teilzunehmen. Der Hauptgrund liegt in der mangelnden Verfügbarkeit von geeigneten Kandidaten (Ladner 2003a; 2003e). Andererseits ist die Bereitschaft zu unkonventionellen Aktivitäten in den letzten 13 Jahren bei allen Parteien gestiegen (Ladner 2004b). Die auf Kantons- und Bundesebene feststellbare wachsende Volatilität der Wählerschaften und Wahlergebnisse hat in moderater Form auch auf kommunalem Niveau Einzug gehalten und manifestiert sich in einer wachsenden interparteilichen Kompetitivität ebenso wie in einer zunehmenden Frequenz von Sitzverlusten (Geser 2004f).
8. Einbindung in die überlokale Kantonalpartei
Im Jahre 1989 haben 36% aller lokalen Parteisektionen angegeben, dass sie das Programm ihrer Kantonalpartei in ihrer konkreten politischen Tätigkeit ein "hohes Gewicht" beimessen würden. In der Nachfolgeuntersuchung 2002 hat sich dieser Anteil auf 47% erhöht. Unverändert hoch ist der Vorsprung der Sozialdemokraten, wo sich fast 60% der Mitgliederparteien unter ihre Mutterpartei subordinieren, während die CVP ihr geringes Konformitätsniveau unverändert beibehalten hat. Genauere Analysen zeigen, dass dieser Wandel allein auf Entwicklungen im deutschsprachigen Raum zurückzuführen ist, wo sich der Einfluss der Kantonalparteien auf ihre örtlichen Sektionen dem hohen Niveau in der Romandie angenähert hat, während sich diese überlokalen Einflüsse im Tessin umgekehrt sogar zurückgebildet haben. Ebenso hat eine Angleichung zwischen grösseren und kleineren Kantonen stattgefunden: in dem Sinne, dass es den früher wenig kohäsiven Parteien grosser Kantone in den letzten Jahren gelungen ist, die Loyalität ihrer Ortssektionen zu erhöhen. In Kantonen jeder Grösse scheint sich dieser Konformitätseinfluss vorrangig auf die Parteien mittelgrosser und städtischer Gemeinden zu erstrecken, während sich die kleinen (ländlichen) Sektionen nach wie vor wenig um solch überlokale Einbindungen kümmern. Insgesamt kann man also den Schluss ziehen, dass es den meisten Kantonalen Parteien in den letzten Jahren gelungen ist, ihre lokalen Sektionen etwas stärker in die Mutterorganisation einzubinden, und über die Kantone hinweg (ausser dem Tessin) einen relativ homogenen Kohäsionsgrad zu realisieren.
9. Neue Kommunikationstechnologien
Die neuen digitalen Kommunikationsmedien werden vorwiegend für den horizontalen Austausch innerhalb der Vorstandsgremien verwendet, während vertikale Kommunikationen (zwischen Führung und Mitgliederbasis) noch wenig Verbreitung finden. Die stärkste Nutzung besteht in Lokalsektionen grösserer Gemeinden der deutschen Schweiz, deren aktive Mitglieder sich vorwiegend aus modernen Berufen rekrutieren. Komplementär zur konventionellen Sitzungstätigkeit scheinen die Führungsgremien diese neuen interaktionspotentiale für eine Verstärkung ihrer parteiinternen Einflussposition (in sach- und personalpolitischer Hinsicht) zu nutzen, während reziproke Interaktionen mit der Mitgliederschaft eher demokratisierende Wirkungen entfalten (Geser 2003h).