Working poor in der Schweiz: Wege aus der Sozialhilfe

Ref. 7051

General description

Period

2000-2004

Geographical Area

-

Additional Geographical Information​

Schweiz, Kantone Basel-Stadt und Freiburg, Schwerpunkt Städte

Abstract

Nach gängiger Meinung ist Armut in der Regel mit Erwerbslosigkeit verbunden. Dementsprechend gilt: wer arbeitet, kann eigentlich nicht arm sein. Gerade neuere Befunde der Armutsforschung brachten ans Licht, dass Armut nicht zwangsläufig mit Erwerbslosigkeit gekoppelt ist. Working poor (erwerbstätige Arme) wurden auch in der Schweiz nachgewiesen. 7,5% der 20-59-jährigen Erwerbstätigen gehören dazu. Das sind 250'000 Personen bzw. über eine halbe Million (mit-)betroffene Haushaltsmitglieder. Sie gehören in der Schweiz einem Haushalt an, in dem nicht das politisch festgelegte Existenzminimum erwirtschaft wird, obwohl ein Erwerbsanteil von über 90% vorliegt. Working poor stehen zwar Sozialhilfeleistungen zu, aber an sich ist Sozialhilfe für diesen Personenkreis nicht vorgesehen. Sozialhilfe soll eigentlich subsidiär gewährte Hilfe für Personen sein, die in vorübergehende Not geraten sind. Ausgesteuerte Arbeitslose, Nichterwerbsfähige und sozial Ausgegrenzte sind die vorgesehene Klientel, denen sie Integrationshilfen anbietet. Working poor befinden sich weder in einer vorübergehenden Notlage, noch bedürfen sie einer herkömmlichen Integrationshilfe. Somit sind Sozialpolitik und Sozialhilfe gefordert, spezielle, auf die working poor zugeschnittene Hilfen zu entwickeln und anzubieten. Die wesentliche Frage, die durch die Studie beantwortet werden soll, ist, wie die Sozialhilfe in der Schweiz zur Überwindung der Sozialhilfebedürftigkeit von working poor-Haushalten beitragen kann.

Results

Im quantitativen Teil der Untersuchung werden die Teilpopulationen aktuell sozialhilfebeziehender (255 Fälle) und von der Sozialhilfe abgelöster working poor (140 Fälle) unter verschiedenen Aspekten (soziodemographische Merkmale, Zusammensetzung der Haushalte, Erwerbsverhältnisse, finanzielle Ausstattung und Ablösefaktoren) beschrieben. Unter den Sozialhilfe beziehenden working poor finden sich höhere Anteile alleinerziehender Frauen, ausländischer und Teilzeit arbeitender working poor als in der Gesamtpopulation der working poor in der Schweiz (Streuli/Bauer 2002). Sozialhilfebeziehende working poor sind im Vergleich zu den working poor, die keine Sozialhilfeleistungen beziehen, mehr mit den Problemen belastet, die sich aus der Migration, der Trennung bzw. Scheidung sowie gesundheitlich erzwungener Einschränkung des Erwerbsumfangs (Unfall, Krankheit, Teil- und Vollinvalidität) ergeben. Für die sozialhilfebeziehenden working poor gilt, dass Armut nicht nur Einkommensschwäche bedeutet, sondern eine Kumulation von verschiedenen Problemen vorhanden ist. Etwas mehr als die Hälfte der working poor lösen sich über den Arbeitsmarkt von der Sozialhilfe ab. Dabei spielt der traditionelle Weg des Erwerbsverhaltens (Ausdehnung des Beschäftigungsgrades durch Überstunden, Zusatzjobs, Ehefrau nimmt teilzeitlichen Zusatzjob auf) die etwas grössere Rolle, ein etwas kleinerer Teil der working poor konnte durch eine qualitative Verbesserung seiner Erwerbssituation (Lohnerhöhung, Beförderung, Wechsel des Arbeitgebers) von der Sozialhilfe abgelöst werden. Ein Viertel der working poor wurde durch die Genehmigung eines Sozialversicherungseinkommens (meistens IV-Rente, jedoch auch AHV- und Unfallrente) von der Sozialhilfe abgelöst. Für das verbleibende Viertel waren andere Gründe (Wegfall von Unterstützungsverpflichtungen, Heirat, Umzug in einen anderen Kanton, private Unterstützung etc.) ausschlaggebend, die weder im Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt noch mit einer Sozialversicherung standen. Bei den biographischen Rekonstruktionen wurden 42 Interviews mit Haushaltsvorständen erhoben, wobei die eine Hälfte der ausgewählten Haushalte noch Sozialhilfe bezieht, die andere bereits abgelöst ist. Dieses Sample umfasst die gesamte Spannbreite der Population, wie sie in der ersten Erhebungsphase klassifiziert wurde: vollzeiterwerbstätige Paarhaushalte mit Kindern, teilzeit erwerbstätige Paarhaushalte, alleinerziehende Frauen, Paarhaushalte ohne Kinder sowie alleinstehende Personen. Die Interviews selbst dauerten ein bis zwei Stunden und wurden in der Regel im Haushalt der interviewten Personen geführt. Themen der Interviews waren die Erfahrungen mit der Sozialhilfe, die gegenwärtige Erwerbssituation, die alltägliche Haushaltsführung sowie die eigenen Perspektiven für die Zukunft. Durch eine in Anlehnung an die Objektive Hermeneutik erfolgende Auswertung der biographischen Interviews mit working poor kann ein differenziertes Bild über deren Lebenssituation gewonnen werden. Die vier untersuchten und anhand von Fallbeispielen ausführlich dargestellten Haushaltsformen unterscheiden sich in einem recht beträchtlichen Ausmass voneinander. Im Zentrum dieses vergleichenden Untersuchungsteils steht ausserdem die Rekonstruktion des Erwerbshabitus von working poor. Durch diese Rekonstruktion kann nachvollzogen werden, wie working poor die Anforderungen des Erwerbslebens interpretieren und welche impliziten Strategien ihren Erwerbsbiographien jeweils zugrundeliegen. Zu den einzelnen Gruppen: (1) Vollzeiterwerbstätige Paarhaushalte mit Kindern: Allgemein liegt allen diesen Fällen als biographischer Hintergrund ein Milieuwechsel, freiwillig eingegangen oder durch äussere Umstände verursacht, zugrunde. Bewältigt werden muss der Wechsel von einem eher vormodernen in ein moderneres Lebens- und Arbeitsmilieu. Dieser Hintergrund trifft für MigrantInnen wie für SchweizerInnen gleichermassen zu. Auf dieser Basis als Hintergrund lassen sich die working poor-Existenz und der Sozialhilfebezug als Ausdruck dieser transitorischen Stellung zwischen zwei lebensweltlichen Milieus, zwischen denen ein Modernisierungsgefälle existiert, begreifen. Diese transitorische Stellung oder auch Spannung ist gekennzeichnet zum einen durch ein Aufstiegsinteresse und ein hohes Arbeitsethos, zum andern durch den Verzicht auf eine individuelle, auf dem Arbeitsmarkt verwertbare Spezialisierung, wobei dieser „Verzicht" nicht nur durch verminderten Zugang zu beruflichen Ausbildungen verursacht ist, sondern sich ebenso im Habitus manifestiert. Um es anders auszudrücken: die working poor unseres Samples orientieren sich an den für sie unmittelbar erfahrbaren Erwartungen der äusseren Umwelt, weniger an eigenen Interessen und Zielsetzungen, die sie in der Erwerbssphäre zu verwirklichen suchen. - Bei einigen wenigen Fällen ist die Transformationsproblematik anders gelagert: nicht der soziale Aufstieg sondern der soziale Abstieg muss bewältigt werden. Diese Problematik findet sich insbesondere bei Flüchtlings- und AsylbewerberInnenbiographien. (2) Teilzeiterwerbstätige Paarhaushalte (teilweise mit Kindern): Hier liegen durch psychische oder somatische Erkrankungen bedingte Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit vor. Die Ablösung von der Sozialhilfe kann entweder durch Gesundung oder auch durch Zuspruch einer IV-Rente erfolgen. Ansonsten gilt auch für diese Gruppe, dass sie wie die vorhergehende durch eine transitorische Stellung zwischen zwei Milieus gekennzeichnet ist. (3) Alleinerziehende Frauen: Auffallend ist, dass viele der alleinerziehenden Frauen aus unserem Sample in Familien, die durch Trennung, Scheidung oder Scheidungsfolgen belastet waren, aufgewachsen sind. Auffallend weiterhin ist der Umstand, dass für die meisten dieser Frauen durch die Erwerbstätigkeit in hohem Masse „quasi-familiäre" Bedürfnisse befriedigt werden: die Aufgabenbewältigung in einer Gemeinschaft und die dadurch erfahrene Anerkennung haben für sie Vorrang vor der individuellen Bewährung. (4) Die alleinlebenden working poor erwiesen sich als eine sehr heterogene Gruppe. In der Regel lagen Trennungsprobleme oder Scheidungsfolgen, teilweise kombiniert mit psychischen Einschränkungen vor. Unterschieden wird in der Studie bei den erwerbstätigen working poor zwischen einem vormodernen und einem modernen Erwerbshabitus. Dabei handelt es sich um eine im Sinne Max Webers unternommene idealtypische Unterscheidung. Beiden Erwerbshabiti ist ein hohes Arbeitsethos eigen; der Selbstbestätigung durch Leistung und ihrer Anerkennung durch andere kommt jeweils ein hoher Stellenwert zu. Der moderne Erwerbshabitus ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass vorwiegend eine berufliche, nicht an einen bestimmten Arbeitgeber oder eine bestimme Betriebsgemeinschaft gebundene Selbstentfaltung gesucht wird. Demgegenüber ist der vormoderne Erwerbshabitus eher daran orientiert, im Rahmen einer gegebenen hierarchischen (Arbeits- oder Betriebs-)Ordnung Leistungen zu erbringen. Die jeweilige Ausprägung des Erwerbshabitus liess sich in den Interviews mit working poor nachweisen. Der Erwerbshabitus erklärt nicht die working poor-Situation. Im Fallmaterial wird deutlich, dass eine Ablösung von der Sozialhilfe über eine qualitative Verbesserung der Erwerbssituation (beispielsweise durch einen beruflichen Aufstieg) an die Existenz eines beruflichen Selbstentfaltungsinteresses gebunden ist. Der Bezug von Sozialhilfe wird von working poor (bis auf die alleinerziehenden Frauen) als Nothilfe angesehen. Sozialhilfebeziehende working poor streben die Ablösung von der Sozialhilfe an und würden es bereits als deutliche Verbesserung ansehen, wenn sie ihren Lebensunterhalt ausschliesslich aus dem Erwerbseinkommen bestreiten könnten. Alleinerziehende Frauen betrachten die ergänzend zum Erwerbseinkommen ausgerichtete Sozialhilfe dagegen nicht als diskriminierend, da sie wegen familiärer Verpflichtungen ihren Erwerbsgrad nicht weiter ausdehnen können. Wir führten ferner 23 Gespräche mit verschiedenen Fachpersonen aus der Sozialhilfe (vor allem SozialarbeiterInnen wie SozialdienstleisterInnen). Diese Gespräche verdeutlichen vor allem, dass wegen der hohen Fallzahlen der einzelnen SozialarbeiterInnen für die Beratung der KlientInnen insgesamt wenig Zeit zur Verfügung steht, wobei dieser Sachverhalt vor allem für die städtischen Sozialdienste, weniger für die der Agglomerationsgemeinden zutrifft. Die Folge ist, dass sich die Sozialhilfe auf die Auszahlung materieller Leistungen beschränkt. Weder existieren speziell auf die working poor zugeschnittene Beratungskonzepte, noch werden ihnen über allgemeine Sozialberatungen hinausgehende Leistungen erteilt. Problematisiert wird durchaus, dass die Sozialhilfe Gefahr läuft, weitergehende Probleme von working poor-KlientInnen (psychische oder somatische Einschränkungen) nicht oder nur unzureichend wahrzunehmen. Einhellig wird festgestellt, dass dem working poor-Problem vorwiegend nicht über die Sozialhilfe, sondern über weitergehende sozialpolitische Massnahmen zu begegnen sei. Die Zahlung von Mindestlöhnen, Ergänzungsleistungen und die Erhöhung der Kinderzulagen werden als sozialpolitische Massnahmen empfohlen, um die Sozialhilfe zu entlasten. Die Gespräche mit den Fachleuten ergaben jedoch auch, dass durchaus die Bereitschaft vorhanden ist, sich verstärkt den sozialhilfebeziehenden working poor zuzuwenden. Voraussetzung sei jedoch die Entlastung der einzelnen SozialarbeiterInnen durch Reduktion der Fallzahlen. Auf der Basis unserer Studie lassen sich Schlussfolgerungen für die Sozialforschung, die Sozialhilfe wie auch die Sozialpolitik formulieren. So sollte die Armutsforschung stärker als bisher die Haushaltsgemeinschaft ins Blickfeld nehmen und von einer individuumszentrierten Perspektive abrücken. Auch der hohen Dunkelziffer bezüglich der Nichtbezugsquote von Sozialhilfeleistungen sollte nachgegangen werden. Die Sozialhilfe benötigt mehr personelle Ressourcen. Sie sollte mehr die komplexe Problemlage von working poor berücksichtigen, ihre Beratungsleistungen ausbauen und auf working poor spezifizieren. Sie sollte dabei insbesondere ihr Augenmerk auf die Erhaltung der Erwerbsfähigkeit richten. Aber auch die SozialpartnerInnen und die Sozialpolitik sind gefordert, dazu beizutragen, die Einkommensverhältnisse von working poor zu verbessern.