Die alte Schweiz als "Bauernstaat": Untersuchungen zum staatlichen und politischen Verhalten in der Eidgenossenschaft von 1450 bis 1520

Ref. 2950

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Abstract

Vorstellungen, die die mittelalterliche Eidgenossenschaft im Sinne eines nationalen geschichtlichen Schicksals als "Bauernstaat" deuten, sind zwar diffus, aber unerschütterlich. Die Frage zu stellen, ob die Eidgenossenschaft des Spätmittelalters tatsächlich ein "Bauernstaat" gewesen sei, mag denn auch auf den ersten Blick banal erscheinen. Selbstverständlich war sie es, lautet eine erste, rasche Antwort: In der alten Eidgenossenschaft war der Anteil der bäuerlichen Bevölkerung bis über die Industrialisierung hinaus mit Abstand der grösste, und von daher gesehen versteht es sich von selbst, diesen Staat – oder genauer gesagt: dieses staatenähnliche Gebilde – als "bäuerlich" zu charakterisieren. Was also rechtfertigt eine Untersuchung mit einer solch banalen Ausgangsfrage und was hat dies alles mit dem Problem der "Kulturellen Vielfalt und nationalen Identität" zu tun? Der Ansatzpunkt dieses Projekts verliert umgehend seine Banalität, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in sämtlichen Gesellschaften und Staaten Europas der Anteil der "Bauern", d. h. der in der Landwirtschaft Tätigen, bis über die industrielle Revolution hinaus mit 80-90% vorherrschend war. Demographisch und "ökonomistisch" betrachtet würden somit die Charakterisierungen "bäuerlich" oder "Bauernstaat" für alle diese vorindustriellen Gesellschaften und Staaten, nicht allein für die Eidgenossenschaft, zutreffen. Aber allein die nationale Geschichtsschreibung der Schweiz nimmt – selbst noch in der neueren Forschung – die Bezeichnungen "Bauernstaat" oder "bäuerlich" ausschliesslich und abgrenzend für die alte Eidgenossenschaft des Spätmittelalters in Anspruch (Peyer 1978, S. 23ff.; Rösener 1980, Sp. 1622f.; Im Hof 1986, Sp. 1696), um damit einen angeblich einzigartigen Charakter eidgenössisch-schweizerischer Staatlichkeit zu manifestieren. Die vorwiegend politisch und verfassungsrechtlich ausgerichtete schweizerische Landesgeschichte begründet ihr "Postulat der Einzigartigkeit" denn auch nicht etwa damit, dass die Grundlage dieser Gesellschaft die Arbeit bäuerlicher Produzenten gewesen wäre. Vielmehr geht sie von einer grundsätzlich "bäuerlichen Gesinnung" aus, die diesen Staat seit "Ur"zeiten sowohl in seinen wirtschaftlichen und sozialen als auch kulturellen und politischen Strukturen geformt hat und noch heute prägen soll. Nach dieser Forschungstradition bilden die mittelalterlichen Genossenschaften im innerschweizerischen "Kernland" die "Urzellen" eidgenössischer Staatlichkeit, und die schweizerischen "Hirtenkulturen" des Mittelalters erscheinen als "Urformen" schweizerisch-demokratischer Denk- und Eigenart. In der traditionellen Nationalgeschichtsschreibung besteht darüber hinaus weitgehend Einigkeit, dass die Eidgenossenschaft auf eine "bäuerliche Staatengründung" zurückzuführen sei, dass bäuerliche Elemente zu den "Wesensmerkmalen" des mittelalterlichen Staatenbundes gehört hätten und dass das angeblich im 15. Jahrhundert "aufkeimende Nationalbewusstsein" eine tendenziell bäuerliche Prägung aufgewiesen haben soll. Medien und politische Öffentlichkeit tradieren diese Bilder und Vorstellungen bis heute ganz kritiklos, wobei nur zu oft im wissenschaftlichen Sinn gar nicht vorhandenes Wissen zur Selbstverständlichkeit geworden ist.

Results

Die Vorstellungen vom eidgenössischen "Bauernstaat" lassen sich in der historiographischen Tradition klar identifizieren und deren ideologische Funktionen können unschwer in einem nationalistischen Staats- und Volksverständnis verortet werden. Mit der wissenschaftsgeschichtlichen Thematisierung dieses Problemkomplexes "Bauernstaat" kann eine grundlegende Diskussion über Wechselwirkungen zwischen historisierenden Politmythen und Nationalgeschichtsschreibung eröffnet und somit eine viel grundsätzlichere Ebene angesprochen werden, als dies bei den oberflächlichen und pseudo-diskursiven Auseinandersetzungen um die sogenannten "historischen Mythen" wie Tell, Rütli oder Winkelried der Fall ist. Welchen Nutzen erbringt diese Diskussion? Selbst neueste geschichtswissenschaftliche Untersuchungen tun sich schwer daran, die verschiedenen Gruppen mittelalterlicher Bauern mit differenzierenden Modellen zu erfassen und für Probleme der Staatlichkeit und Staatswerdung nicht überholten nationalistischen Vorstellungen vom einstigen "Staats- und Bauernvolk" zu erliegen; ohnehin werden die Mythenverwalter am historisch verklärten, national-ideologisch wirksamen Konstrukt eines eidgenössischen Bauernstaates festhalten. In der "Öffentlichkeit" wird sich ein differenziertes Bild nur schwer durchsetzen können, zumal gerade der Mittelalterboom in den Medien Mitte der 1980er Jahre und die teilweise nostalgisch-verklärende Nabelschau im Zuge einer ökologischen Zivilisationskritik mit der Rückbesinnung auf eine scheinbar intakte bäuerliche Welt der "guten alten Zeit" nachwirken und zudem neuestens die pseudo-historische Aufbereitung der nationalen Vergangenheit im politischen Diskurs rund um das 700 Jahre-Jubelfest der Eidgenossenschaft einer differenzierenden Betrachtungsweise kaum förderlich sind. Wir beurteilen also unsere Möglichkeiten, den angestrebten Nutzen zu erbringen, mit Skepsis. Trotzdem: Es besteht die begründete Hoffnung, dass eine interessierte Öffentlichkeit vielleicht doch zur Kenntnis nimmt, dass identitätsstiftende Werte nicht mehr wie in Zeiten nationalstaatlicher Bewährung und Einigung in "uralten bäuerlichen" Traditionen, "angeborener Wehrhaftigkeit", "Höhenluft", "Schollenverbundenheit" und Abwehr gegen "Fremdes," zu suchen sind. Nicht die Fortsetzung einer konservierenden politischen Traumdeutung, die von einer imaginären, mit "historischen Mythen" und historisierenden Versatzstücken durchsetzten Geschichte lebt, ist angezeigt. Nur das grundlegende Infragestellen der heutigen Funktionsweisen dieses Staates und das ernsthafte und radikale Überdenken schweizerischer politischer Kultur kann zu einer Lösung der Probleme um die nationale Identität führen. Wir verstehen unser Resultat als grundsätzlichen ideologie- und mentalitätsgeschichtlichen Beitrag zu diesem Überdenken.