Vorstellungen, die die mittelalterliche Eidgenossenschaft im Sinne eines nationalen geschichtlichen Schicksals als "Bauernstaat" deuten, sind zwar diffus, aber unerschütterlich. Die Frage zu stellen, ob die Eidgenossenschaft des Spätmittelalters tatsächlich ein "Bauernstaat" gewesen sei, mag denn auch auf den ersten Blick banal erscheinen. Selbstverständlich war sie es, lautet eine erste, rasche Antwort: In der alten Eidgenossenschaft war der Anteil der bäuerlichen Bevölkerung bis über die Industrialisierung hinaus mit Abstand der grösste, und von daher gesehen versteht es sich von selbst, diesen Staat – oder genauer gesagt: dieses staatenähnliche Gebilde – als "bäuerlich" zu charakterisieren. Was also rechtfertigt eine Untersuchung mit einer solch banalen Ausgangsfrage und was hat dies alles mit dem Problem der "Kulturellen Vielfalt und nationalen Identität" zu tun?
Der Ansatzpunkt dieses Projekts verliert umgehend seine Banalität, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in sämtlichen Gesellschaften und Staaten Europas der Anteil der "Bauern", d. h. der in der Landwirtschaft Tätigen, bis über die industrielle Revolution hinaus mit 80-90% vorherrschend war. Demographisch und "ökonomistisch" betrachtet würden somit die Charakterisierungen "bäuerlich" oder "Bauernstaat" für alle diese vorindustriellen Gesellschaften und Staaten, nicht allein für die Eidgenossenschaft, zutreffen. Aber allein die nationale Geschichtsschreibung der Schweiz nimmt – selbst noch in der neueren Forschung – die Bezeichnungen "Bauernstaat" oder "bäuerlich" ausschliesslich und abgrenzend für die alte Eidgenossenschaft des Spätmittelalters in Anspruch (Peyer 1978, S. 23ff.; Rösener 1980, Sp. 1622f.; Im Hof 1986, Sp. 1696), um damit einen angeblich einzigartigen Charakter eidgenössisch-schweizerischer Staatlichkeit zu manifestieren. Die vorwiegend politisch und verfassungsrechtlich ausgerichtete schweizerische Landesgeschichte begründet ihr "Postulat der Einzigartigkeit" denn auch nicht etwa damit, dass die Grundlage dieser Gesellschaft die Arbeit bäuerlicher Produzenten gewesen wäre. Vielmehr geht sie von einer grundsätzlich "bäuerlichen Gesinnung" aus, die diesen Staat seit "Ur"zeiten sowohl in seinen wirtschaftlichen und sozialen als auch kulturellen und politischen Strukturen geformt hat und noch heute prägen soll. Nach dieser Forschungstradition bilden die mittelalterlichen Genossenschaften im innerschweizerischen "Kernland" die "Urzellen" eidgenössischer Staatlichkeit, und die schweizerischen "Hirtenkulturen" des Mittelalters erscheinen als "Urformen" schweizerisch-demokratischer Denk- und Eigenart. In der traditionellen Nationalgeschichtsschreibung besteht darüber hinaus weitgehend Einigkeit, dass die Eidgenossenschaft auf eine "bäuerliche Staatengründung" zurückzuführen sei, dass bäuerliche Elemente zu den "Wesensmerkmalen" des mittelalterlichen Staatenbundes gehört hätten und dass das angeblich im 15. Jahrhundert "aufkeimende Nationalbewusstsein" eine tendenziell bäuerliche Prägung aufgewiesen haben soll. Medien und politische Öffentlichkeit tradieren diese Bilder und Vorstellungen bis heute ganz kritiklos, wobei nur zu oft im wissenschaftlichen Sinn gar nicht vorhandenes Wissen zur Selbstverständlichkeit geworden ist.