Konfliktlinien und Konkordanz in der Schweiz: Eine qualitative und quantitative Analyse der eidgenössischen Volksabstimmungen von 1848 bis 2003

Ref. 7790

General description

Period

1848 bis 2003

Geographical Area

Additional Geographical Information​

Schweiz

Abstract

Mit dem Projekt "Konfliktlinien im Bundesstaat" gingen wir der umstrittenen, doch wenig erforschten Frage nach, wie weit es die politischen Strukturen sind, welche Konflikte dämpfen, oder ob Konkordanz erst zum Ausgleich beiträgt, wenn die Konflikte in der Gesellschaft bereits ihren Höhepunkt überwunden haben. Am Fallbeispiel Schweiz wurde untersucht: - den Verlauf und die Entwicklung der Konfliktlinien; - die Interessengegensätze, wie sie sich auf Ebene der politischen Elite zeigten sowie allfällige Zusammenhänge zwischen dem Verhalten der politischen Parteien im Abstimmungskampf und dem Abstimmungsverhalten der Bevölkerung; - das Voraus- oder Nachlaufen politischer Integration im Bezug zum institutionellen Wandel hin zur Konkordanz; - die politische Praxis der schweizerischen Regierungsparteien im Wandel der Zeit und wie stark diese Praxis dem Modell der Konkordanz entspricht. Forschungsleitend war dabei die zentrale These der Konkordanztheorie, dass in soziostrukturell heterogenen Gesellschaften politische Stabilität erreicht werden könne, wenn sich die politischen Eliten erstens kooperativ verhalten, und sie zweitens ihre jeweilige gesellschaftliche Basis von den erzielten Kompromissen zu überzeugen vermögen. Als strukturelle Gegensätze, welche in Westeuropa zu andauernden Interessenkonflikten und schliesslich auch zur Bildung unterschiedlicher Parteien geführt haben, gelten die vier von Lipset und Rokkan 1967 identifizierten Cleavages sowie die "neuen" Konfliktlinien, die von verschiedenen Forschenden festgestellt worden sind, die das Cleavagekonzept weiterentwickelt haben. Für die Schweiz haben sich gleich sieben normative Konfliktlinien durch eine längere zeitliche Entwicklung gezogen, nämlich die Gegensätze Kirche-Staat, Föderalismus-Zentralismus, der Konflikt zwischen den verschiedenen Sprachgruppen, die Konfliktdimensionen Stadt-Land, Arbeit-Kapital, "Materialismus-Postmaterialismus" sowie "Tradition-Modernisierung".

Results

Durch die konzeptionell neuartige Kombination qualitativer und quantitativer Methoden und den grossen Untersuchungszeitraum konnten erstmals integral die Entwicklungen der verschiedenen Ebenen der Konfliktlinien über eine längere Periode hinweg dargestellt werden. Das Ermitteln von Zusammenhängen zwischen dem Elite- und Basisverhalten sowie die Identifizierung von konfliktuellen und friedlichen Phasen haben schliesslich Aussagen dazu ermöglicht, ob eine allfällige Abnahme der Konflikte auf das Konkordanzsystem zurückzuführen ist oder nicht. Die empirischen Erkenntnisse, die durch die qualitativen und quantitativen Analysen gewonnen werden konnten, sind umfangreich und vielschichtig. Für Informationen zu den einzelnen behandelten Cleavages und verfolgten Unteranalysen sei auf die zwei im Rahmen des Projekts entstandenen Dissertationen (siehe Publikationen). Zur zentralen Forschungsfrage, ob Konkordanz als Institution dazu beiträgt, Konfliktlinien innerhalb einer Bevölkerung einzudämmen, kann Folgendes zusammengefasst werden: Gestützt auf die Erkenntnisse zum Verlauf der Konfliktlinien und der Entwicklungsgeschichte der Konkordanz in der Schweiz wurde festgestellt, dass die Konkordanz - verstanden als Kooperation der vier grossen Parteien anlässlich von eidgenössischen Volksabstimmungen - direkt wenig zur Beilegung der Konflikte beigetragen hat. Die politischen Eliten zeigten sich erstens in den Abstimmungskämpfen weniger auf Kompromiss bedacht als gemäss Konkordanztheorie zum Verhalten der politischen Akteure angenommen wird. Zweitens hatten die Eliten zwar einen gewissen Einfluss auf das Abstimmungsverhalten der Basis, doch "kontrollierten" sie diese nicht, wie es die Konkordanztheorie voraussetzt. Manchmal folgte die Basis der Elite, manchmal nicht. Besonders frappierend ist drittens der Befund, dass Kooperation unter den Parteien nicht als Ursache von politischer Stabilität gelten kann, sondern vielmehr Folge einer bereits stattgefundenen Annäherung war. Die institutionelle Einbindung von Oppositionsparteien war in der Schweiz nicht ein Mittel, um diese zu integrieren, sondern Ausdruck davon, dass bereits ein gemeinsamer Nenner gefunden worden war. Die jüngere Vergangenheit zeigt zudem deutliche Anzeichen eines Niedergangs der Konkordanz. Trotz formeller Einbindung aller vier dominanten Schweizer Parteien in die Regierung schwindet ihr gemeinsamer Nenner. Damit einher geht eine Verschärfung der strukturellen Konflikte zwischen Land und Stadt sowie zwischen der deutschen und der französischsprachigen Schweiz.